Die geheime Mission des Nostradamus
hörten über dem Wasser das Geräusch von Riemen, und die beiden Fackeln, die im Bug des herannahenden Bootes angebracht waren, glühten in der dunklen Nacht wie zwei hellrote Augen. Die Mondsichel über ihnen wurde immer wieder von vorbeiziehenden Wolken verdeckt, zwischen denen hier und da Sterne blinkten. Die Loire war ein schwarzer Fluß mit schwarzen Ufern und spiegelte das flackernde Licht, das sich auf der dunklen Wasserfläche gleichsam wie Öl ausbreitete. An der Anlegestelle stampften ungeduldige Pferde mit leise klirrendem Zaumzeug, und man konnte schwach den Umriß einer Sänfte und Reiter mit Laternen ausmachen.
»Er ist da«, flüsterte ein Wachposten.
»Wurde auch langsam Zeit. Er sollte schon nachmittags eintreffen.«
»Um diese Jahreszeit ist die Strömung ungünstig.«
Das Boot rumpelte, dann knirschte es gegen den Anlegeplatz, und zwei kräftige Männer hievten ein Bündel aus dem Heck.
»Wir sind da, Maistre«, sagte einer. »Legt bitte ein gutes Wort für mich ein, ja?«
»Bei der Königinmutter oder bei den Geistern?«
»Bei beiden, falls Euch das gelingt. Denkt daran, mein Sohn möchte ein eigenes Boot haben.« Auf dem Hügel über ihnen schimmerte im matten Sternenschein eine Festung aus weißem Stein mit spitzen Türmen.
»Hoffentlich erwartet sie nicht, daß ich da zu Fuß hochgehe«, sagte Nostradamus, der sich seine zerdrückte Robe zurechtzupfte wie ein aufgeschrecktes Huhn, das geplusterte Federn glättet. Er machte vorsichtig ein, zwei Schritte, wobei er sich schwer auf seinen Stock stützte. »Meine Gicht! Schlimmer als üblich. Ich sage Euch, das hier ist meine letzte Reise. Geheimmission, pah!« Ein halbes Dutzend schwerbewaffnete Wachen kletterten hinter Nostradamus aus dem Boot.
»Er gehört euch«, sagte der befehlshabende Offizier zu einem der Reiter. »Und vergeßt nicht: Die Königin schneidet euch die Ohren ab, wenn ihm auch nur ein Härchen gekrümmt wird. Er kann nicht mehr als zehn Schritte zu Fuß gehen, braucht zwei Federkissen, ißt nichts Gebratenes und trinkt keinen Wein, der jünger ist als fünf Jahre. Viel Vergnügen.«
Der alte Doktor und ein großes, geheimnisvolles Bündel wurden in die wartende Sänfte verladen. Von Vorreitern mit Fackeln begleitet, schwebte die Sänfte den steil ansteigenden Weg hinauf zum Schloß. Im Wald unter ihnen schuhuten die Eulen. Ein Wachposten bekreuzigte sich abergläubisch. Wer wußte schon, welch dämonischen Zauber das Bündel des furchteinflößenden Propheten des Untergangs barg? Das waren keine Eulen, sondern Satansdiener, die ihren Zunftgenossen willkommen hießen.
Die Königinmutter saß noch spät am Sekretär und schrieb bei Kerzenschein. Es war ein Brief an Madame de Humières, in dem es um die Pflege ihres kleinen Lieblings Hercule ging, der schon wieder mit einer Kinderkrankheit darniederlag. »Und man hat mir versichert, es gäbe ein unfehlbares Heilmittel, das die Gifte in der Lunge löst. Rauch von Eibenholz zusammen mit einem Umschlag aus Lilienöl und Lavendel…« Es klopfte an die Tür, und eine der Hofdamen öffnete und verkündete, Maistre Nostredame sei endlich eingetroffen.
Die Königin ließ alle draußen warten, wo sie sich an der Tür in der Hoffnung drängten, ein, zwei Worte von den Geheimnissen mitzubekommen, die im Zimmer besprochen wurden. Sich gegenseitig Schweigen bedeutend, knieten die Damen nieder, und eine legte das Ohr ans Schlüsselloch, doch alles vergebens. Das einzige Wort, das sie auffing, lautete »Ruggieri«, und das äußerte der alte Prophet voller Entrüstung.
»Richtig, ich habe ihn damals, als ich den Astrologenraum im Turm eingerichtet habe, zu Rate gezogen. Er enthält alles, was Euer Herz begehrt, Maistre – aber Ihr versteht gewiß, daß ich ihm in einer so heiklen Angelegenheit nicht vertrauen konnte.«
»Cosmo Ruggieri könnte keinen Zauberspiegel herstellen, auch wenn sein Leben davon abhinge«, sagte Nostradamus verstimmt.
»Selbst wenn er es könnte«, erwiderte die Königinmutter, »würde er zu meinen Feinden überlaufen und dem Nächstbesten die Informationen verkaufen. Außerdem wißt Ihr, daß ich Euch für den einzig wahren Propheten halte.«
»Anscheinend ist Ruggieris Versuch mißglückt.«
»Woher wißt Ihr?« fragte die plumpe, kleine Frau in Schwarz.
»Vor zwei Tagen schon habe ich es im Boot gesehen. Und aus der Tatsache geschlossen, daß man mich mit der Zusicherung, ich wäre in diesem Fall der einzige Wahrsager, zu dieser Reise gezwungen
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