Die geheime Mission des Nostradamus
Jahre 1554 in einer stürmischen Märznacht um die zwölfte Stunde, zwei Jahre vor seiner langen und beschwerlichen Reise gen Norden. Der Wind klapperte mit den Fensterläden und pfiff gespenstisch, und die Balken des Hauses knarrten.
»Ich habe dich um eine Vision vom Ende der Zeit gebeten, nicht um das da.« Draußen zogen regengeblähte Wolken über das bleiche Antlitz des Mondes. Eine angemessene Nacht zum Beschwören von Geistern, wenn auch ein wenig kühl.
»Tut mir leid«, sagte Anael. »Bei mir liegt alles durcheinander. Ihr Menschen unterteilt die Geschichte in ordentliche Kategorien, wenn sie Vergangenheit ist. Dann schreibt ihr alles auf, und für euch ergibt das einen Sinn, aber nicht für mich. Ihr verwahrt die Geschichte auf eure Weise, ich auf meine. Na und?« Jetzt prasselte der Regen auf das Dach und spritzte in Schauern gegen die Fensterläden. Der Meister des Okkulten trug zum Schutz vor Kühle und Feuchtigkeit unter der heiligen weißen Wahrsagerrobe aus Leinen einen pelzgefütterten Morgenmantel. Hausschuhe aus Pelz und ein seidengefütterter viereckiger Doktorhut, mit Pferdehaar versteift und von einem Knopf geziert, vervollständigten den Aufzug. Es ging um die Autorität. Geistern mußte man zeigen, wo ihr Platz ist.
Nostradamus zog sein kleines grünes Notizbuch hervor, das geheime, das nur für Vorhersagen für sich und seine Familie bestimmt war, und schrieb: »Eine lange, unerquickliche Reise gen Norden…«
»… auf königlichen Befehl«, half Anael nach und legte einen schemenhaften Finger – dunkelblau wie wehender Rauch – auf die Stelle in dem Büchlein, wo die Feder des alten Doktors innegehalten hatte.
»Königlicher Befehl? Dann schaut am Ende ein wenig Geld dabei heraus«, sagte der Doktor und wurde merklich heiterer.
»Darauf würde ich nicht rechnen«, sagte Anael.
»Böser und ungehorsamer Geist«, skandierte Nostradamus und spritzte ein wenig Wasser aus der Bronzeschale in Anaels Richtung, »beuge dich meinem Willen. Ich beschwöre dich mit den vier Wörtern, die Gott zu seinem Diener Moses sprach, Josata, Ablati, Agla, Caila…«
»Schon gut, schon gut, wenn du es so haben willst«, fügte sich der Geist, richtete sich zu voller Größe auf und stieß dabei an die Decke des Studierzimmers, dann verschränkte er die Arme. Anael war ein stattlicher Geist: Aus irgendeinem Grund, den nur ein spielerischer Gott kannte, war er nicht nur der Hüter vergangener und zukünftiger Geschichte, sondern auch des Planeten Venus mit all seinen Epizyklen und Einflüssen. Sein äußeres Erscheinungsbild war das eines jungen Mannes, doch völlig nackt und mit langem, ungebärdigem Haar. Er war durchscheinend und von mitternachtsblauer Farbe mit kleinen, funkelnden Sprenkeln, die umherwirbelten, wenn Anael sich ärgerte – so wie jetzt. Dazu kam ein riesiges Paar rabenschwarzer Flügel, die irisierend blau und violett schimmerten und die er wie einen Umhang zusammengefaltet hatte. Seine seltsamen gelben Augen schienen bis zum Anfang und Ende der Zeit zu sehen. Dazu besaß er ein bezauberndes spöttisches Lächeln und einen recht seltsamen Sinn für Humor, wie sowohl die Geschichte als auch die Liebe zu wiederholten Malen bewiesen haben…
»Zeige mir, o Geist, eine Vision vom Ende der Zeit«, beschwor Nostradamus, steckte das grüne Notizbüchlein weg und holte ein großes aus braunem Leder mit Prägung hervor. Das stand voller Weissagungen, die der Geist ihm eingegeben hatte: Kriege, Todesfälle, Eroberungen. Es sollte sein Meisterwerk werden, der Almanach der Almanache, und die französische Monarchie leiten bis zur Wiederkehr des Herrn und bis zum weltweiten Triumph des katholischen Glaubens. Zur Fertigstellung war nur noch eine aufrüttelnde Vision vom Ende der Zeit erforderlich, dann konnte es gedruckt werden. Als er es Anael zum ersten Mal erläuterte, hatte der hämisch gelacht. Dann hatte der Geist das Wasser bewegt und ihm die Vision eines bleichen, fetten kleinen Mannes gezeigt, dem vor einer Menge vulgärer Menschen mit Hilfe einer Art Apparatur der Kopf abgeschlagen wurde. In jener Nacht waren Michel de Nostredame ein paar neue weiße Fäden in seinem Bart gewachsen, die seine Frau zu dem Rat veranlaßten, von seiner haarsträubenden Liebhaberei abzulassen, nämlich der nächtlichen Beschwörung höllischer Geister.
»Unfug, mein Schatz. Das bedeutet Brot und Butter auf dem Tisch. Außerdem möchte ich sehen, wie alles endet«, hatte er ihr entgegnet. Sie seufzte. So
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