Die geheime Mission des Nostradamus
Schultern, die Nachtmütze auf dem ergrauenden Blondhaar auf Vaters großem Stuhl. Noch immer krank und trotz ihres nächtlichen Aufzugs, wirkten ihre feinen Züge im Kerzenschein irgendwie kräftiger, und es war klar, wer hier den Befehl führte. Ihr gerades Rückgrat und ihr jählings grimmiger Blick strahlten einen eisernen Willen aus.
»Madame, anscheinend ist er mit ihnen geflohen«, sagte ein Diener.
»Verräter«, sagte sie. »Mein Vater hätte solche falschen Verwalter niemals geduldet.«
»Mutter… Mutter«, stammelte ich. »Ich – ich weiß, wer das war. Der Mann mit der Maske. Ich bin mir sicher, es war Thibauld Villasse.«
»Das überrascht mich nicht.« Ihre Stimme klang gelassen. »Aber du mußt noch vor dem Morgengrauen fort, ehe man auf den Gedanken kommt, dich abholen zu lassen – falls man das überhaupt wagt.«
»Aber, aber warum?«
»Warum? Falls dein Vater schuldig gesprochen würde und unser Besitz an die Kirche fiele, verlöre er auch seinen Weinberg. Doch wäre es Villasse gelungen, dich gewaltsam zu entführen und zu heiraten, hätte er seinen Anspruch darauf behalten. Ich bin überrascht, daß er so viel riskiert hat. Vielleicht weiß er mehr über Vaters Festnahme als wir.«
»Mutter, ich habe auf ihn geschossen. Ich habe ihn umgebracht.«
»Ich weine ihm keine Träne nach, denn ich habe ihn nie gemocht«, erwiderte sie. »Aber natürlich hast du keine Beweise, daß er es war.«
»Aber ich bin mir sicher…«
»Dummes Zeug. Das bildest du dir nur ein. Du warst von Sinnen. Zu viele Sorgen. Das kann bei einem jungen Mädchen zu Wahnvorstellungen führen. Die eingedrungenen Männer waren Räuber, und die Behörden sollten sie verfolgen und hängen. Man denke nur, da versuchen sie, junge, unschuldige Jungfrauen im Schlafzimmer zu überfallen! Zweifellos haben sie gehört, daß der Hausherr abwesend ist, und gehofft, unser Silbergeschirr stehlen zu können. Habt ihr das alle gehört? Ich möchte, daß ihr das aussagt, wenn man euch dazu befragt.« Mutters gebieterischer Blick schweifte über ihre Kinder und über das inzwischen auf der Diele zusammengelaufene Gesinde. »Obwohl ich mir kaum vorstellen kann, daß es jemand wagen würde«, fügte sie mit kaltem, hartem Gesicht hinzu.
»Mutter«, sagte ich, »wie kommt es, daß Ihr in solchen Dingen so bewandert seid?«
»Ich habe einige Erfahrung darin, wie man sich nach einem Mord benehmen muß«, erklärte sie in gelassenem und zurückhaltendem Ton. Ihr Blick schweifte ab, als ob sie in einem sonderbaren Traum befangen wäre, dann richtete er sich vom Schreibtisch zur geöffneten Haustür, wo der schwache Sternenschimmer die Gestalt eines Stalljungen erhellte, der die toten Hunde an den Beinen fortschleifte. »Ich sehe, daß die Sterne vor der Morgendämmerung fliehen, meine Tochter. Du mußt dich ankleiden und aufbrechen.«
»Aber wohin? Was soll ich nur tun?«
»Wohin? Ei, natürlich zu Pauline«, sagte Mutter.
»Das würde Vater mir nie verzeihen…«
»Dein Vater? Der wird nie wieder jemandem etwas verzeihen, es sei denn, er hat mehr Glück, als ich mir vorstellen kann. Aber du hast am Schreibtisch wohl einen Brief verfaßt. Deine Kerze ist völlig heruntergebrannt. Was für eine Verschwendung, bei Kerzenlicht zu schreiben. Du weißt doch, daß wir sparen müssen.«
»Ja, Mutter.«
»Du wolltest einen Brief an den Bischof schreiben, ob ich es nun wünsche oder nicht. Habe ich recht?«
»Ja, Mutter.«
»Dann nimm den Brief mit. Er wird der Welt erklären, warum du uns so plötzlich verlassen hast. Vielleicht könnte er dir sogar nützlich sein. Pauline wird wissen, was da zu tun ist. Es wurde mir seit vielen Jahren nicht mehr erlaubt, sie zu sehen, aber ich traue ihr vorbehaltlos. Und jetzt helft mir wieder ins Bett. Ich bin sehr erschöpft.«
Binnen einer Stunde hatte ich das Haus meines Vaters auf dem kleinen Packpferd verlassen, begleitet von einem bewaffneten Diener, der es am Zügel führte. Doch als ich die Brücke überquert hatte und an den Bäumen vorbeigeritten war, drehte ich mich zu einem letzten Lebewohl von Heim und Familie um, und da sah ich einen Jagdhund herangaloppieren, fast so groß wie ein Kalb. Die Zunge hing ihm aus dem Maul, und sein großes, geflecktes Gesicht drückte beflissenen Eifer und abgöttische Liebe aus. Es war Gargantua.
Kapitel 5
16. März 1554
M eine Frau wird zwei Tage vor Michaeli ihr bestes Umschlagtuch einbüßen. Die neue Magd, die nächsten Monat zu uns kommt, wird es
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