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Die geheime Mission des Nostradamus

Titel: Die geheime Mission des Nostradamus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle Riley
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ein guter Mann, so weise, so würdevoll und ansehnlich und ein so guter Vater. Vermutlich ist diese ganze Magie besser als eine Mätresse, dachte sie. Mutter hat immer gesagt, daß auch der beste aller Ehemänner eine Schwäche hat. An diesem Abend kochte sie ihm sein Lieblingsgericht. Dazumal, als der Geist mir gezeigt hat, welche Frau ich heiraten sollte, da hat er gute Arbeit geleistet, erinnerte sich der alte Doktor, während er darauf wartete, was er ihm dieses Mal zeigen würde.
    Doch Anael war vom Bauchnabel an unsichtbar. Man hörte Gepolter und Geklapper, so als ob er in einem großen unordentlichen Schrank herumkramte. »Scheine ich verlegt zu haben«, kam eine Stimme aus dem Nichts herangeweht. »Möchtest du einen Antichrist haben?«
    »Was meinst du mit einem? Gibt es denn mehrere?« fragte Nostradamus, der langsam eine Gänsehaut bekam.
    »Oh, und hier ist noch einer, der dir vielleicht gefällt.« Auf einmal spürte der alte Mann seine Erschöpfung.
    »Na schön, zeige sie mir. Es ist spät, und morgen muß ich zur Taufe von Sieur de Granvilles Sohn. Sein Bruder hat als Geschenk ein Horoskop bestellt, und das muß ich noch zu Ende abschreiben.« Die obere Hälfte des Geistes tauchte wieder auf, er hatte die Arme verschränkt und eine geheimnisvolle Miene aufgesetzt, und seine gelben Augen wirkten schwarz und unergründlich. Nostradamus ließ das Wasser in der Messingschale kreisen, dann blickte er lange Zeit hinein. Als sich das Wasser beruhigte, bildeten sich allmählich Farben und Formen.
    Ein überfüllter Saal mit Männern und Frauen in üppigen, fremdartigen Gewändern. Eine Zeremonie. Der Papst mit sämtlichen Insignien seiner Macht. Er sieht alt und krank aus. Er will einem gedrungenen kleinen Mann mit schlauer Miene und durchdringendem Blick eine höchst merkwürdige Krone aufsetzen, keine königliche Krone, sondern eine, die an den goldenen Lorbeerkranz der römischen Imperatoren aus alter Zeit gemahnt. Plötzlich greift der Mann nach oben und nimmt dem Pontifex die Krone aus den zitternden Händen. Er krönt sich selbst.
    »Ein Usurpator«, flüstert Nostradamus. »Er hat sogar den Papst bezwungen. Was hat er sonst noch getan?«
    Eine Stimme hauchte dem alten Mann etwas ins Ohr. Mit der Vorsicht, die eine kurze Begegnung mit der Inquisition bewirkt hatte, verschlüsselte Nostradamus die Silben und vermischte sie. Soll sie doch jemand anders entschlüsseln, wenn die Zeit gekommen ist. »Po, Na, Loron.« Napoleon.
    »Wird die einzig wahre Kirche vor dem Ende siegen?« fragte der alte Prophet.
    »Immer stellst du die falschen Fragen«, entgegnete der Geist milde.
    »Wie viele Antichristen gibt es?«
    »Nach deiner Auslegung drei«, wisperte Anael.
    »Wann wirst du sie mir offenbaren?«
    »Laß nur, sie werden sich schon einstellen. Sie sind irgendwo da drin. Ich bin nämlich wirklich sehr sorgsam. Habe noch nie etwas verloren. Die Dinge sind nur ein wenig durcheinandergeraten. Möchtest du nicht das andere Bild sehen, das ich gefunden habe?«
    Die Vision im Wasser verflüchtigte sich. Nichts war im Zimmer zu hören als das Kratzen der Feder, mit der der Prophet in sein braunes Buch schrieb. Dann hielt der alte Mann inne, bedeckte die Augen mit den Händen und gönnte ihnen ein Weilchen Ruhe. Die Kerzen im siebenarmigen Kandelaber auf seinem Arbeitstisch flackerten jäh auf, so daß er zusammenzuckte und die Augen aufriß. Ein leichtes Beben durchlief seinen Körper. Als er das Wasser mit seinem Zauberstab berührte, merkte er, daß seine Hand zitterte. Ein Bild formte sich unter der gekräuselten Oberfläche, und dann erkannte er allmählich die Gesichter, die Kleidung. Das hier ist unserer Zeit ganz nahe, dachte er. Und ich kann alles, was sich zuträgt, deutlich hören. Und – ja – sie sprechen französisch. Kannst du, o Geist, mir nicht wenigstens die Geräusche ersparen?
    Die Vision einer brennenden Scheune, umgeben von Söldnern. Männer, Frauen und Kinder in schlichter dunkler Kleidung wollen durch die offene Tür fliehen. Reiter stürzen sich auf sie und metzeln sie nieder. Geschrei, Hufschläge, das gräßliche Knirschen von Stahl, Entsetzensschreie. Kinderleichen, Frauen, die sich über ihre Kinder warfen und zu Tode getrampelt worden sind. Bücher, die die Sterbenden fallen ließen, liegen zerstampft in Schlamm und Blut. Die Scheune ist nur noch ein Haufen rauchender Balken. Zwei Männer hoch zu Roß reiten heran und prüfen den Schaden. Die Anführer. Der alte Doktor erkennt sie.

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