Die geheime Mission des Nostradamus
wollte. Es war einer dieser frischen südlichen Märztage nach einem ausgiebigen Regen, wenn der Wind die Wolken fortgeblasen hat und eine bleiche Wintersonne am blauen Himmel den Mai erahnen läßt. Doch Nostradamus hatte zu lange gewacht, um den Tag genießen zu können; der Kopf schmerzte ihm, weil er zuviel Rauch vom Kohlebecken mit den fremdartigen Kräutern eingeatmet hatte, und das Herz war ihm schwer vom schmerzlichen Wissen, das ihm seine mitternächtlichen Untersuchungen vermittelt hatten. Jetzt sah er, daß sich zwischen ihm und dem Jungen mit dem Maulesel Stadtbewohner und ein halbes Dutzend Bauern vor seiner Haustür drängelten, die vom Landgut des Sieur de Chasteauneuf geschickt worden waren und in einem Korb ein Ungeheuer mitgebracht hatten.
»Maistre Nostredame, Maistre Nostredame«, schrie es aus der Menge auf.
Lieber Gott, nicht schon wieder. Jede Mißgeburt auf dreihundert Meilen in der Runde wird mir ins Haus gebracht. Behutsam, gestützt auf seinen Malakkastock mit dem silbernen Knauf, stieg er die Stufen hinunter und trat näher. Die kühle Nacht war seiner Gicht nicht gut bekommen. So viele Geheimnisse, dachte er, und ich bin nicht schlau genug, um das Geheimnis der Gicht zu enträtseln. Vielleicht hat Anael ja recht, ich sollte mich zurückziehen.
Seine klugen dunklen Augen schweiften über die Menge.
Rings um jede Gestalt sah er in der Luft eine tanzende, schimmernde Bewegung, nicht unähnlich den Hitzewellen über einem sommerlichen Weizenfeld. Und jede Aura vermittelte ihm ein Gespür für das Schicksal ihres Trägers: Hier ein Unfalltod, dort Vermögen und ein rüstiges Alter, an anderer Stelle eine tödliche Krankheit, die im verborgenen nagte. Eine jener Fähigkeiten, die er während seines langen Exils entwickelt hatte und die zu besitzen er jetzt bedauerte. Bei normalen Unterhaltungen mußte er immer so tun, als ob die Aura nicht vorhanden wäre, die ihm die Geheimnisse des Gegenübers entgegenrief. Sonst riskierte er ein blaues Auge oder eine gebrochene Nase oder, schlimmer noch, eine Runde auf der Wippe, die einen seiner Lehrmeister, den großen Guy Lauric, verkrüppelt hatte, weil der so töricht gewesen war, dem Tyrannen von Bologna die Wahrheit zu sagen.
Mein Fluch, dachte er. Ich war jung und dumm und erfüllt von dem leidenschaftlichen Verlangen, in die Zukunft zu sehen. Ich habe gewußt, daß es falsch ist, aber wer hätte dem Abgesandten des Versuchers höchstpersönlich schon widerstehen können? Ein gerechtes Schicksal hat meine Strafe genau in dem Augenblick festgesetzt, als das üble, übernatürliche Ding mir die Kräfte, um die ich bat, gewährt hat: Jetzt sehe ich und bin zum Schweigen verdammt. Meine Strafe ist ein Leben im quälenden Käfig des Wissens. Kassandra wurde wenigstens die Gnade gewährt zu sagen, was sie sah, auch wenn man ihr nicht glaubte. Mir wird geglaubt, aber wenn ich nicht in Stücken vor dem Stadttor hängen möchte, darf ich nichts sagen. Lieber Gott, wie bist du doch ironisch. Da bin ich ausgezogen, das Geheimnis der Ewigkeit zu erforschen, und wo bin ich gelandet? Als Verfasser von Almanachen, nach denen die Bauern ihre Felder bestellen.
»Ei, ei«, sagte Nostradamus und strich sich den Bart, »was haben wir denn da? Aha, ein Kind mit zwei Köpfen.« Einer der Köpfe, auf dem sich neben Stirnhöckern auch ein Paar mißgebildeter Ohren abzeichnete, blähte ihn an. »Hmm, es lebt und macht Lärm. Ich fürchte, das ist ein schlimmes Omen.«
»Meister, Meister, sagt uns, was es bedeutet.« Die Leute umdrängten ihn. Eine allgemein gehaltene, recht hoffnungsfrohe Antwort ist stets die sicherste, dachte der alte Mann und nickte, als wälzte er tiefschürfende Gedanken.
»Es bedeutet«, sagte er bedächtig, »daß das Königreich Frankreich zweigeteilt wird, daß jedoch Leib und Seele letzten Endes eins bleiben und daß das Rechte obsiegt.« Der mißgebildete Kopf blökte erneut. Der Kopf mit den beiden normalen Ohren sah aus, als schliefe er.
»Ha! Der Häßliche ist Lutheraner!« rief ein Spaßvogel, der – wie die meisten anderen auch – den Unterschied zwischen Lutheranern und Calvinisten nicht kannte.
»Der recht denkende Kopf schläft. Wach auf, wach auf! Die Heiligen sind in Gefahr!« schrie ein anderer.
»Beiß ihn, beiß ihn«, drängte eine Stimme den schläfrigen. Nostradamus schüttelte den Kopf. Wie sich diese Toren doch in einen endlosen Irrgarten aus Sorge und Blut stürzen, dachte er. So wie jeden Mensch umgab auch die
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