Die geheime Mission des Nostradamus
der König von Navarra, der höchste Fürst von Geblüt, als die Höflinge das mit Gobelins geschmückte Empfangsgemach der Königin betraten. Auf einer Galerie spielten Musikanten, auf kleinen, beliebig aufgestellten Tischen standen Spiele und Speisen bereit. Die Königin saß auf einem niedrigen gepolsterten Stuhl, neben dem ein etwas prächtigerer und größerer stand. Auf dem farbig gefliesten Fußboden breiteten sich erlesene Teppiche aus und bestickte Seidenpolster, auf denen die märchenhaft herausgeputzten Hofdamen mit sich bauschenden Röcken rings um Katharina von Medici saßen. Nachdem die Herren die Königin förmlich begrüßt hatten, gesellten sie sich zu den Grüppchen von Hofdamen, um Karten zu spielen, Geschichten zu erzählen und sich den neuesten Klatsch und die neuesten Lieder anzuhören. Die Abende bei der Königin gehörten zu dem, was kein Mann von Adel missen mochte. Man konnte den Damen den Hof machen, ein Stelldichein verabreden und eine alte Mätresse gegen eine neue eintauschen. Harmlose Zerstreuungen, so dachten sie, während sie die Ehrendamen musterten, die man dem Haushalt der Herzogin und der Königin zugewiesen hatte. Frauen waren ja so flatterhaft, so entzückend und leicht zu täuschen. Nie würden sie begreifen, daß sie in den Fängen zweier rivalisierender Spionagenetze zappelten, die mit dem ganzen taktischen Geschick zweier militärischer Befehlshaber an der Front geleitet wurden.
Der König begab sich mit einem halben Dutzend seiner Herren zu seiner Gemahlin und unterhielt sich höflich mit ihr.
»Sire«, sagte sie im Bemühen, ein Thema anzuschneiden, bei dem sich ihre unterschiedlichen Interessen trafen, »habt Ihr dieses eigenartige Buch mit den Weissagungen eines gewissen Doktor Nostradamus gelesen? Es enthält allerhand Merkwürdiges bezüglich der Zukunft des Königreiches.«
»Ich hole mir keinen politischen Rat bei selbsternannten Weissagern«, entgegnete der König. »Das war angemessen für die heidnischen Kaiser in Rom, und es hat sie ins Elend gestürzt. Wir haben das Glück, in einem christlichen Königreich zu leben.«
»Aber ich habe das Buch hier, und es ist äußerst kurios«, sagte sie und zeigte ihm eine aufgeschlagene Seite. Langsam las der König den Vers, auf den sie wies.
Le lion jeune le vieux surmontera
En champ bellique par singulier duel:
Dans cage d'or les yeux lui crèvera:
deux classes une, puis mourir, mort cruelle.
Die Höflinge hinter ihm traten von einem Fuß auf den anderen. ›Der junge Löwe wird den alten im Zweikampf besiegen…‹ Der Löwe war ein König, daran bestand kein Zweifel.
Weissagungsbücher waren derzeit die große Mode, aber dieses war skandalös. Da gab es doch einfache Menschen, die meinten, genau diese Strophe prophezeie den Tod Heinrichs II. Aber war es nicht Hochverrat, den Tod des Königs vorauszusagen? »Das hat gar nichts zu bedeuten«, sagte der König. »Ein Mann, der ein Prophet sein möchte, sollte seine Worte besser wählen. Seht Euch nur diese Verse an. Latein mit Französisch vermischt – und obendrein noch Anagramme und Dialekt eingeflochten. Er will lediglich Rätsel aufgeben, denn dann kann er hinterher sagen, er habe recht behalten. Und wer könnte das Gegenteil behaupten? Aus diesen unzusammenhängenden Versen wird kein Mensch schlau.«
»Mein Cosmo sagt, es prophezeie Gefahr, und davor müßt Ihr Euch hüten.«
»Euer Cosmo?« sagte der König verächtlich. »Dieser gräßliche Zauberer, dieser Scharlatan, den Ihr aus Italien mitgebracht habt?«
»Die Ruggieri haben den Medici seit Generationen trefflichst gedient«, beharrte die Königin.
»Seit dem Tag, als sie sich aufs Pfandleihen und Hausieren verlegt haben«, flüsterte Diana von Poitiers ihrem kleinen Schützling, der Königin der Schotten, zu, und das Kind kicherte. Katharina hatte die Bemerkung verstanden, doch das einzige Anzeichen war ein flüchtiger Blick in Richtung der Urheberin.
»Aber wie möchte er diese Strophe ausgelegt wissen? Auch mir scheint sie viel zu rätselhaft«, bemerkte der Alte Konnetabel, ein Verbündeter Königin Katharinas im heimlichen Kampf gegen die Guise, weil er die Wogen glätten wollte.
»Er sagt, dem König drohe große Gefahr im Zweikampf getötet zu werden. Sire, diese Strophe hat mich so beunruhigt, daß ich den berühmten Gauricus in Rom gebeten habe, Euer Horoskop zu überprüfen.« Der König seufzte. Horoskope, Wahrsager, Karten, alles Närrische und Abergläubische bot seiner Gemahlin
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