Die geheime Mission des Nostradamus
gleißend war, daß sogar die Pflastersteine vor Hitze zu brüllen schienen. Juli 1556, fast ein Jahr nachdem der Drucker in Lyon das Manuskript von Centuries aus seiner Hand erhalten hatte. So gewiß wie ein Felsblock hügelabwärts rollt, hatte eines das andere nach sich gezogen, genau wie vorhergesagt. »Also ist der vermaledeite königliche Befehl endlich eingetroffen«, sagte er zu dem staubbedeckten Burschen mit den hohen Lederstiefeln, der ihn erschrocken anblickte. »Paris, o nein! Mit meiner Gicht? Das ist selbst mit königlichen Postpferden eine Reise von über einem Monat.« Nostradamus war so verärgert, daß er den Burschen nicht in den Schatten bat, sondern im Hauseingang stehenblieb und die Siegel erbrach. »Macht nichts«, murmelte er. »Meine Taschen sind bereits gepackt. Ich habe diese Reise vorhergesehen.« Der Bote wurde blaß.
»Ihr sollt so schnell wie möglich aufbrechen«, stammelte er.
»Ich wäre ein schöner Prophet, wenn ich nicht darauf vorbereitet wäre, daß ich meine Praxis für einen Monat schließen muß. Ich habe bereits einen Vertreter; sage dem Seneschall, daß ich morgen nach St. Esprit fahre. Übrigens, hat er mir Geld für die Reise mitgegeben?« Mit einem dümmlichen Grinsen zog der Bote eine kleine Börse aus der Tasche.
»Gut«, sagte Nostradamus. »Man sollte nie versuchen, einen Menschen mit übernatürlichen Kräften für dumm zu verkaufen. Hmm. Diese Börse ist aber leicht. Das reicht nicht einmal für den halben Weg. Was erwartet man von mir? Daß ich auf eigene Kosten reise?« Brummelnd und mit tappendem Malakkastock betrat er sein schattiges Haus, während sich der Bote davonmachte, von abergläubischer Furcht ergriffen.
Auf der Route der königlichen Poststellen, aus Sicherheitsgründen möglichst in Gesellschaft von Kaufleuten oder im Gefolge eines erlauchten Edelmannes, kamen Nostradamus und sein Diener ungewöhnlich schnell voran und befanden sich Mitte August auf der Straße Orléans-Paris. Tag für Tag hatte Nostradamus in seinen Bart gebrummelt, daß er ohne Léon noch schneller gereist wäre und daß seine Frau daran schuld habe, weil sie so sehr um ihn bangte. Schließlich hatte er in seiner Jugend die ganze bekannte Welt bereist. Sollte ein Mann so tief sinken, daß er wie ein Geck, der seine Kleidung dreimal am Tag wechselte, einen Kammerdiener mitschleppte, nur weil seine Frau Angst um ihn hatte?
»Wenigstens schreibt er mir und läßt mich wissen, wie es dir geht«, hatte sie ihn beschworen. »Du weißt ja, daß du für solche Dinge immer zu beschäftigt bist.«
»Schreiben«, hatte der alte Mann entgegnet, »der Kerl kann ja nicht einmal eine Feder halten.«
»Aber er hat schon zwanzig Jahre bei meinem Vater gedient, ehe er zu uns gekommen ist, er ist uns treu ergeben und weiß sehr wohl, wie man einen sachkundigen Briefschreiber anheuert. Außerdem ist Léon sehr praktisch veranlagt. Jemand muß sich doch um dich kümmern.« Und nun war Léon also dabei, und er erwies sich in vielerlei Hinsicht als nützlich. Dennoch war es eine zusätzliche Ausgabe, ein weiteres hungriges Maul war zu füttern, und das störte Nostradamus. Schließlich war er ein Mann, der mutterseelenallein ins tiefste Arabien gereist und den Fängen des Großsultans von Konstantinopel entkommen war, der unter den Magi des Heiligen Landes die Geheimnisse der Kabbala studiert und noch nie einen Kinderhüter gebraucht hatte, der ihm überallhin folgte…
Dieses Problem überdachte er übellaunig bei einem besonders heruntergekommenen Ausspann, der angesichts seines völlig ungenießbaren Weins nur Kundschaft hatte, weil er der einzige im Ort war, als ihm etwas Merkwürdiges auffiel. Nein, eher jemand Merkwürdiges: eine junge Frau, vollkommen fehl am Platz und ohne Begleitung, abgesehen von dem größten und häßlichsten Welpen, den er seiner Lebtag erblickt hatte. Das schlaksige Geschöpf umkreiste sie hoppelnd und beschnüffelte alles, und sie redete es mit Gargantua an. Da merkte der alte Mann auf. Belesen. Hmm. Vornehm, ja, zu vornehm, um ohne Anstandsdame zu reisen. Ein Lakai, falls man einen Bauernjungen ohne Livree als solchen bezeichnen kann. Das Kleid, ein umgearbeitetes Trauerkleid, ist zu kurz, sie ist jedoch ganz und gar nicht traurig. Die Aura – schuldbewußt, weil sie sich nicht schuldig fühlt. Die Frau hat gerade etwas Haarsträubendes angestellt. Sehr beschäftigt mit einer ungewöhnlichen Aufgabe. Etwas war besonders merkwürdig. Die meisten Auren, die der
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