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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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und Wanja wich automatisch zurück. Taro kniete nieder, ohne den Blick von Mischa abzuwenden. Behutsam legte er das Instrument zu Boden. Dann erhob er sich, fasste Mischa an den Schultern und zog ihn zu sich heran. Mischa stand ganz steif, doch er ließ es geschehen.
    Und plötzlich begannen seine Schultern zu beben. Erst ganz leicht. Dann zuckten sie und das Beben zog sich über Mischas Rücken, seinen ganzen Körper hinunter. Die Knie sackten ihm weg, aber Taro hielt ihn fest. Seine eine Hand lag zwischen Mischas Schulterflügeln, mit der anderen drückte er Mischas Kopf an seine Brust. Immer heftiger wurde das Beben und dann, unvermittelt, brach ein Geräusch aus Mischa hervor. Es war ein sperriger, trockener Laut, der Wanja bis ins Mark ging. Taro nickte. Nickte und nickte und hielt Mischa in seinen Armen, bis er sich beruhigt hatte.
    Endlos erschienen Wanja die Sekunden, bis sich Mischa aus der Umarmung löste. Den Kopf hielt er gesenkt.
    »Da seid ihr ja! Wir dachten schon, ihr kommt nicht mehr!« Perun war durch den Vorhang getreten, stand in der Manege und schaute verwirrt von einem zum anderen. Mischa hatte sich weggedreht, aber Perun hatte sein Gesicht bereits gesehen. Sein breiter Kiefer trat hervor, als beiße sich der Feuerschlucker fest auf die Zähne. »Soll ich euch noch einen Moment alleine lassen? Ich kann den anderen sagen, dass ihr noch Zeit braucht.«
    Mischa schüttelte den Kopf. »Schon in Ordnung«, murmelte er.
»Schaffst du die Probe?« Taros Stimme klang zärtlich.
Mischa nickte. »Ja.«
Taro wandte sich zu Perun. »Sag Noaeh und O Bescheid, sie sollen kommen, ich möchte alles noch einmal mit ihnen und Mischa durchsprechen. Danach«, er drehte sich zu Wanja, »machen wir noch einen Durchlauf am Trapez und dann können wir anfangen. Sag Madame Nui, wir kommen später zu ihr.«
Perun nickte und verschwand. Kurz darauf kamen Noaeh und O in die Manege. Keiner der beiden sagte etwas zu Mischas Gesicht, aber als O hinter ihm die schmalen Stufen zum Balkon hochstieg, legte er seine Hand auf Mischas Schulter.
Während Taro mit den dreien die Stücke durchging, saß Wanja unten auf ihrem Platz in der Ehrenloge und versuchte die störenden Gedanken zurückzuhalten, was Anstrengung kostete, als ob sie einem, der stärker war, die Tür zuhielt.
Nach einer Weile kam Gata in die Manege gehumpelt und setzte sich zu ihr. Oben auf dem Balkon hatten O und Mischa zu trommeln begonnen.
»Gut, Mischa«, rief Taro. »Genau so. Halt dich an O, bleib in seinem Rhythmus, bis du dich sicher fühlst. Von da aus kannst du improvisieren. Verlass dich auf dein Gefühl, es wird dich führen, und sobald du unsicher wirst, kehr zurück und achte wieder auf O. Sei dir beim Spielen aber immer gewahr, was in der Manege geschieht. Keine Bewegung darf dir entgehen.«
Wanja schloss die Augen. Der Rhythmus der Trommeln wurde eindringlicher, auch Noaeh sang jetzt und Wanja konnte schon nicht mehr unterscheiden, welche Trommel von O und welche von Mischa kam. Oder doch? Klang eine der beiden nicht eine Spur dunkler? Härter? Trotz der präzisen Schläge, wütender?
»Bist du bereit für eine letzte Probe, bevor es losgeht?« Wanja öffnete die Augen. Taro kniete vor ihr. Das Trapez war schon aufgebaut und mit wenigen Handgriffen hatte Taro auch das Sicherheitsnetz gespannt.
»Ja«, sagte Wanja. »Ich bin bereit.«
Nach einigen Dehnübungen am Boden stieg Wanja zusammen mit Gata die Strickleiter hoch zu ihrem Trittbrett. Noch immer konnte Gata den verletzten Fuß nicht belasten.
Taro ging an seinem Trapez in Stellung, und als er in die Hände klatschte, ertönte ein leises Trommeln. Etwas Seltsames widerfuhr Wanja. Auch die anderen Male, wenn sie ins Bild getreten war, hatte sie das Gefühl gehabt, als ob die Zeit davor zusammenschmolz; als ob nicht Wochen, sondern lediglich Minuten zwischen den Besuchszeiten lägen. Dieses Gefühl hatte sie heute stärker als je zuvor. Ihr war, als ob sie eben noch hier gestanden hätte, vor einem Augenblick erst gesprungen wäre. Alles, was Taro ihr gesagt hatte, alles, was sie in den langen Stunden ihres letzten Besuchstages gelernt hatte, war da und die Probe verlief ohne einen einzigen Fehler.
Gata klatschte, und als Taro mit ihr am Boden stand, drückte er Wanja fest an sich. »Bravo, Wanja. Besser hätte es nicht laufen können. Auch ihr«, er wandte sich zu den Musikern, »wart großartig. Genau so muss es sein.«
Gemeinsam verließen sie die Manege. Wanja blieb dicht an Mischas Seite, ihre

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