Die geheime Reise
keine Pumpe. Scheiße! Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
»Wie wär’s mit der hier?« Der Blonde bückte sich und hielt Wanja die Luftpumpe entgegen, die hinter dem Vorderreifen des Rades auf dem Boden lag.
»Oh.« Wanja schluckte. »Danke. Die hab ich gar nicht gesehen.« Sie wollte nach der Pumpe greifen, aber der Blonde hielt sie fest.
»Was gibst du mir, wenn ich dir den Reifen aufpumpe?« Wanja starrte den Jungen entgeistert an. »Hast du sie noch alle? Soll das jetzt Erpressung sein, oder was? Gib mir sofort die Pumpe oder …?«
Der Blonde grinste. »Oder was? Du gefällst mir. Deshalb pump ich dir den Reifen so auf. Okay?«
Er trat die Zigarette mit dem Fuß am Boden aus, bückte sich, schraubte den Verschluss des Reifens auf und fing an zu pumpen. Wanja trat von einem Fuß auf den anderen und versuchte die Zeit auf ihrer Uhr abzulesen, als sie ein leises Knirschen auf dem Kiesweg hörte. Oh nein! Bitte nicht, bitte jetzt nicht auch noch Frau Gordon oder schlimmer noch, Herr Schönhaupt oder sonst ein Erwachsener. Wanja drückte sich an die Wand und hielt die Luft an. Die Scheune lag direkt neben dem Eingang zum Schullandheim. Aus dem Halbdunkel löste sich eine Gestalt.
Es war kein Lehrer. Es war Britta.
Da stand sie, direkt vor ihnen, in ihrem pinkfarbenen Cordkleid und mit einem so fassungslosen Gesichtsausdruck, dass Wanja zu stottern anfing.
»Britta, ich … der … das …« Sie schüttelte den Kopf, als klemmten dort die Worte fest, drehte sich zu dem Blonden um. Der war inzwischen fertig mit Pumpen und legte Wanja zu allem Übel jetzt auch noch den Arm um die Schultern. »Ich hätte ja gern mit dir getanzt«, sagte er, ohne Britta auch nur eines Blickes zu würdigen. »Aber wenn du unbedingt wegwillst, muss ich halt mit dem vorlieb nehmen, was übrig bleibt.«
Er warf Wanja eine Kusshand zu und schlenderte mit federnden Schritten zurück zum Schullandheim. Ein Lied von Britney Spears ertönte. I’m not a girl, not yet a woman …!
Wanja schwang sich auf das Rad. Vor Britta, die noch immer bewegungslos dastand, hielt sie an. »Du, bitte, glaub mir, ich kann wirklich nichts …«
Britta machte einen Schritt zurück. Hasserfüllt starrte sie Wanja an. »Du Schlampe! Wo auch immer du hinwillst, du kannst dich drauf verlassen, dass ich dich verpfeife!«
Wanja war inzwischen alles egal. Nur eins zählte noch. Rechtzeitig zum Bahnhof zu kommen, den Zug zu erwischen. Sie ließ Britta stehen, trat in die Pedale und raste los. Raste über die dunkle, menschenleere Landstraße, über der der volle Mond stand. Das Fahrrad war ziemlich hoch, sodass Wanja im Stehen treten musste, weil sie im Sitzen nicht richtig an die Pedale herankam. Aber sie merkte die Anstrengung gar nicht, sie strampelte, als wäre es die Zeit selbst, die sie überholen wollte. Und als sie, ohne sich zu verfahren, am Bahnhof ankam, das Fahrrad gegen eine Hauswand schleuderte und die Treppen hoch zum einzigen Gleis rannte, hatte sie es tatsächlich geschafft. Es war 20:46 Uhr und der Zug fuhr gerade in den Bahnhof ein.
Erst jetzt, als Wanja aus der kalten Nachtluft in das stickige, überheizte Abteil trat, spürte sie, was sie geleistet hatte. Das Atmen tat ihr in der Brust weh, ihre Knie zitterten, in ihren Oberschenkeln fühlte sie schmerzhaft jeden Muskel und die steif gefrorenen Hände fingen in der Wärme plötzlich unangenehm zu kribbeln an. Wanja wartete, bis ihr Atem sich einigermaßen beruhigt hatte, dann ließ sie sich in den Sitz fallen, schloss die Augen und versuchte nicht daran zu denken, was sie morgen bei der Rückkehr erwarten würde.
Im Zug nach Husum kam kein Schaffner zur Kontrolle, und als Wanja zwei Stunden später im Anschlusszug saß, tastete sie ihre Hosentaschen nach dem Portmonee ab. Sie hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht, was die Zugfahrt kosten würde. Sie hatte zwanzig Euro Taschengeld dabei, die würden hoffentlich reichen.
Der Schaffner kam kurz vor der Endstation, und als er die Tür zum Abteil öffnete, in dem außer Wanja niemand saß, war es zum Weglaufen zu spät. Der dicke Mann mit der runden Brille auf dem roten Gesicht war Tinas Vater! Wie erstarrt blieb er im Türrahmen stehen. »Wanja! Was um Himmels willen machst du hier? Ich denke, ihr seid an der Nordsee! Ist was passiert?«
»Ich …« Wanja fühlte sich wie gelähmt, gleichzeitig verspürte sie den verzweifelten Drang, wegzurennen. »Meine Mutter!«, stammelte sie. »Meine Mutter ist krank. Sie … Frau Gordon hat mir erlaubt,
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