Die geheime Reise
zurückzufahren. Ich werde abgeholt, es ist alles abgesprochen.«
Himmel, was sagte sie da? Diesen dahergestammelten Schwachsinn sollte ihr jemand abnehmen? Wanja wagte nicht die Augen aufzuschlagen, der Puls hämmerte in ihren Ohren. Der Zug war schon in den Bahnhof eingelaufen, aber Tinas Vater stand mitten in der Tür. Er zog die Augenbrauen hoch. »Also, ich weiß nicht«, brummte er und machte einen Schritt nach vorn.
Wanjas Gefühl von Lähmung löste sich auf. Wie ein gejagtes Tier sprang sie auf. Sie preschte vor, drückte Tinas Vater zur Seite, was der verdatterte Mann widerstandslos mit sich geschehen ließ, und schoss an ihm vorbei zum Abteil hinaus. Der Ausgang war gleich daneben.
»Wanja«, rief Tinas Vater hinter ihr her. Wanja rannte, als sei der Teufel hinter ihr her. Rannte, rannte, rannte, bis sie Mischa in die Arme lief.
»Oh Scheiße, Mischa«, presste sie hervor. »Tinas Vater hat mich gesehen. Und Britta … ach verflucht, es ist einfach alles schiefgegangen. Ich bin so froh, dass wenigstens du da bist.«
Mischa antwortete nicht und erst jetzt sah Wanja, was mit ihm los war. Er hatte ein blaues Auge und seine linke Gesichtshälfte war so heftig geschwollen, als hätte jemand mit einem Knüppel darauf eingeschlagen.
Wanja schlug die Hand vor den Mund. »Mischa! Was ist passiert? Welches Schwein hat dir das angetan?«
Mischa wandte sein Gesicht ab. Ohne ein Wort zu sagen, drehte er sich um und ging mit langen Schritten auf die Rolltreppe zu. Er trug noch immer seine dünne Cordjacke und seine Schultern kamen Wanja plötzlich noch schmaler vor als sonst. Sie stolperte hinter ihm her, viel zu verwirrt, um mehr zu sagen oder zu fragen.
Mischas Fahrrad stand vor dem Bahnhof. Kalt war es. Klirrend kalt. Und auf dem Weg zum Museum blies ihnen der Wind so unbarmherzig entgegen, dass Wanja ihr Gesicht fest an Mischas Rücken drückte, um wenigstens ein bisschen Schutz zu finden. Mischa sprach kein Wort. Er trat in die Pedale wie Wanja vorhin und das Einzige, was die kalte, dunkle Luft erfüllte, waren sein wütendes Keuchen und der weiße Nebel seines Atems.
Die Kunsthalle war angestrahlt und vor der Kasse stand eine Traube von Menschen. Es war zehn nach zwölf, außer ihnen war kein Jugendlicher in der Eingangshalle, in der noch immer der Engel stand, seinen steinernen Arm zur Decke gestreckt. Wanja blickte sich suchend um. Die anderen waren sicher alle bereits im Saal hinter der roten Tür.
Auch in der Kunsthalle war es voller als bei allen anderen Besuchen, und als Wanja mit Mischa in die Abteilung der Alten Meister einbog, blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen.
Vor dem Gemälde der Himmelfahrt Marias stand eine Frau mit einem afrikanischen Tuch um die Schultern. Sie hatte kurzes rotes Haar und hatte ihren Arm um die schmalen Hüften eines Mannes gelegt. Ihre Hand steckte in einem knallroten Lederhandschuh. Wanja hielt Mischa am Ärmel.
Flora?! Das wäre mehr, als sie ertragen konnte. Als die Frau sich plötzlich zu ihnen umdrehte, war Wanja nicht in der Lage, sich zu bewegen.
Braune Augen lachten sie an. Wanja stieß den Atem aus. Es war nicht Flora. Es war eine andere, und als Wanja kurz darauf die rote Tür öffnete und den dunklen Gang betrat, war sie so erleichtert, dass ihr die Tränen in die Augen schossen.
D IE G ENERALPROBE
D er Saal war leer. Nur die alte Frau stand auf der Bühne. Als ihr Blick auf Mischa fiel, wurde ihr schmales Gesicht ganz blass. Über ihre hohe Stirn zog sich eine Falte und ihr Kehlkopf ruckte auf und ab. Für ein paar Momente war alles still.
»Willkommen, ihr beiden«, sagte die Frau schließlich. Ihre Stimme klang ruhig und sanft wie immer. »Die anderen sind schon in ihren Arkaden. Aber euch bleibt noch genügend Zeit. Geht nur, euer Bild wartet schon.«
Als Wanja sich abwandte, öffnete die Frau noch einmal den Mund, wie um etwas hinzuzufügen, das sie vergessen hatte. Eine Fackel neben der Bühne flackerte, als hätte ein Luftzug sie gestreift. Aber Mischa war schon im Gehen und die alte Frau machte den Mund wieder zu. Sie gab Wanja ein Zeichen, ihm zu folgen. Diesmal las Wanja neben der Traurigkeit noch etwas anderes in ihrem Gesicht: Angst.
Mitten in der Manege stand Taro, ganz allein. Er trug ein rotes, eng anliegendes Trikot, mit feinen schwarzen Mustern. Wie Arme einer feingliedrigen Pflanze sahen sie aus. Taro spielte Saxofon, doch als die beiden aus dem Rahmen stiegen, ließ er das Instrument sinken und ging auf sie zu. Vor Mischa blieb er stehen
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