Die geheime Reise
die Nummer geprobt hatte. Aber sein Gackern klang panisch und sein Schnabel hackte so heftig auf ihn ein, dass Pati Tatü verzweifelt mit den Händen nach ihm griff. Er stöhnte laut auf, und als er die Hände sinken ließ, war Blut an ihnen.
»Verrücktes Biest!«, schrie er und versuchte das Tier zu packen. »Was zum Teufel ist denn in dich gefahren?!«
Das Huhn ließ sich nicht fangen. Wie wild geworden, flatterte es vom Kopf des Zauberers und raste in ziellosem Zickzack durch die Manege. Mit Hilfe von Baba gelang es Pati Tatü schließlich, das Tier zu packen.
»Bist du in Ordnung, Pati?« Besorgt sah Baba an dem Zauberer hoch. Pati Tatü nickte, das Huhn fest an seine Brust gepresst, aber als er an Reimundo und Wanja vorbei nach draußen lief, sah er völlig verstört aus. »So was ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert!«
Wanja drehte sich zu Taro um. »Was hatte das zu bedeuten?« Taro zuckte mit den Schultern, auf seiner Stirn erschien eine Falte.
Aus der Manege ertönte Babas Stimme. »Lasst uns weitermachen, sonst geht die ganze Ordnung verloren. Auf, auf, Reimundo, du bist dran.«
Der Alp und der Traum …
Als das Gedicht des traurigen Zauberers ertönte, fasste Taro Wanja an der Hand. Wie viel Ruhe von ihm ausging. In Wanjas Hals hatte sich ein dicker Kloß gebildet und sie war dankbar, dass Taro mit ihr die langen Dehnübungen gemacht hatte. War das Lampenfieber? Aber warum musste sie plötzlich an die alte Frau denken, an die Angst in ihrem Gesicht?
… kaum sind sie, kaum
zu unterscheiden,
die beiden,
bis sie sich binden
und bleibend verschwinden …
»Mit Pati ist alles wieder gut.« Gata war hinter sie getreten. Sie würde Taro das Trapez für seinen Salto entgegenschwingen. »Vielleicht hat das Huhn ja was von seinem Schnaps gesoffen.« Gata kicherte, aber es klang nicht echt. Taro öffnete für Reimundo den Vorhang und dann traten er und Wanja Hand in Hand in die Manege.
Wanja spürte, wie ihre Knie zitterten. Taro hatte Recht gehabt, obwohl keine Zuschauer in der Manege waren, fühlte es sich doch so an und Wanja wunderte sich, wie viel Macht die Einbildung über einen haben konnte. Nur nicht denken, schärfte eine innere Stimme ihr ein, nur nicht denken. Vorhin beim Durchlauf war alles gut. Es wird auch jetzt gut sein.
Pati und Perun hatten das Sicherheitsnetz bereits gespannt und Wanja stieg hinter Taro die Strickleiter empor. Ihre Kostüme leuchteten wie die feurigen Federkleider zweier Phantasievögel. Oben auf dem Trittbrett legte Taro den Umhang ab und rieb sich die Hände. Dann drehte er sich zu Wanja um und küsste sie auf die Stelle zwischen ihren Augen. »Alles Gute für dich, Herrin der Lüfte. Achte auf mein Zeichen. Und vergiss nicht den Umhang abzulegen, bevor du beginnst.«
Er griff das Trapez und stieß sich ab.
Wanja hatte sich so sehr auf diesen Augenblick gefreut, aber jetzt musste sie regelrecht gegen die Aufregung ankämpfen. Unruhig huschten ihre Blicke über die leeren Sitze. Beim nächsten Mal würde die Manege wirklich gefüllt mit Menschen sein. Gata stand auf dem Trittbrett vor dem Trapez gegenüber, die Schaukel lag bereits in ihren Händen, bereit zum Abschwung für den Salto. Aber Taros Kunststücke davor nahm Wanja gar nicht wahr. Ihre Augen hatten sich auf die hinterste Bank in der Manege geheftet. Da saß jemand. Amon.
Amon?
Wanja lief ein Schauer über den Rücken. Was machte der Alte hier? Sich die Generalprobe anschauen? Na klar, versuchte sie sich zu beruhigen, warum denn nicht? Aber das ungute Gefühl, das sich in ihre Aufregung gemischt hatte, kroch tief in ihre Glieder. Wanja atmete. Ein und aus. Ein und aus.
Ja. Das half.
Taro stand jetzt wieder neben ihr. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Er machte sich bereit für seinen Salto und auf der anderen Seite hielt Gata den Atem an. Noaeh sang. Gata schwang das Trapez. Und Taro sprang. Er nahm Anschwung mit den Beinen und dann wie beim letzten Mal lösten sich seine Hände von der Stange. Sein Körper wirbelte durch die Luft, drehte sich, einmal, zweimal, dreimal, viermal – dann griffen seine Hände nach dem Trapez. Geschafft. Gata kletterte von ihrem Platz nach unten.
Taros Beine schwangen sich über die Stange, jetzt hing er kopfunter – und klatschte. Wanjas Zeichen. Die Trommeln setzten ein.
Wanja legte den Umhang ab. Sie suchte nach Amon, aber jetzt waren die Lichter auf sie gerichtet, sie konnte nur das Trapez gegenüber erkennen. Dann holte sie tief Luft, ergriff die Stange ihrer
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