Die geheime Reise
adoptiert?
»Meine Mutter. Nicht meine Eltern.« Natalies Stimme klang scharf und in ihren Augen blitzte es plötzlich so wütend auf, dass Wanja ganz erschrocken war.
»Wieso hast du sie denn mit hierher genommen?«
Natalie machte ein Geräusch, als ob sie Spucke zwischen ihren Zähnen durchzischen ließ. »Ich hab sie nicht mit hierher genommen, klar? Ich bin ihnen an der Kasse begegnet. Wahrscheinlich wollte der Wichser meine Mutter nett ausführen, was weiß denn ich? Jedenfalls werde ich sie ganz bestimmt nicht später am Ausgang treffen.«
Wanja schwieg. Der »Wichser« sah eigentlich ganz nett aus, fand sie. Aber dieser Meinung war Natalie offensichtlich nicht und Wanja hütete sich davor, sie zu fragen, warum. Sie wollte sie nicht noch mehr aus der Fassung bringen, als sie es ohnehin schon war.
Inzwischen waren die beiden Mädchen in dem abgelegenen Winkel bei der roten Tür angelangt, hinter der die anderen Jugendlichen bereits verschwunden waren. Nur der dicke Junge kam noch um die Ecke, sein Gesicht war ganz rot, als wäre er gerannt, und als sie zu dritt durch den dunklen Gang liefen, hörte Wanja ihn schnaufen.
Im Saal, der wie immer in den warmen Schein der Fackeln getaucht war, kam die uralte Frau gerade auf die Bühne. Wieder schien es Wanja, als blieben die meerblauen Augen auf den Gesichtern von ihr und Mischa eine Spur länger haften als auf den übrigen. Dann nickte sie, lange und langsam, und zog an dem gusseisernen Pinselkopf.
In der Manege waren heute mehrere Artisten und probten. Unter dem Musikerbalkon zog Sulana ihre Schlange aus dem Korb und hinten am Vorhang saß Reimundo und fummelte an einer großen grauen Maske herum. Auf einem bestimmt drei Meter hohen Einrad saß Pati Tatü, balancierte über eine winzigen Wippe vor und zurück und jonglierte dabei mit seinen fünf Leuchtbällen. Als Pati Tatü Wanja und Mischa sah, warf er alle fünf Bälle hoch in die Luft, fing sie wieder ein und verbeugte sich so tief, dass Wanja glaubte, jeden Moment müsse ihm der schwarze Zylinder vom Kopf fallen. Aber der klemmte fest auf den gelben Blumenkohllocken.
Am meisten zog Wanja allerdings das Spinnennetz in seinen Bann. Groß und geisterhaft hing es von der Decke des Zirkuszeltes hinunter und spannte sich einmal quer durch die Manege. Die Fäden schimmerten. Silbrig glitzernde Tautropfen hingen darin und ganz oben hockte Madame Nui, stumm und lauernd, in einem schwarzen Kostüm aus pelzigem Samt. Als wäre das Erscheinen der Jugendlichen ihr Startbefehl, setzte sich Madame Nui in Bewegung. Mit leisen, unglaublich schnellen Bewegungen krabbelte sie über das Netz, bis sie in der Mitte angekommen war. Dort bog, drehte und verknotete sie ihren Körper, als sei er nicht aus Knochen und Muskeln, sondern aus Gummi.
»Unglaublich, was?«, flüsterte Wanja Mischa zu, der auch noch auf seinem Platz in der Loge saß. Madame Nui hatte gerade beide Beine hinter ihrem Kopf verkreuzt, während sich die Hände am Netz festhielten.
»Ja, unsere schwarze Witwe ist nicht übel.« Ein Geruch von Öl und kaltem Rauch zog Wanja in die Nase. Neben der Loge stand Perun, sie hatte ihn gar nicht kommen gesehen.
Unter seinem Arm klemmten Pfeil und Bogen. »Zwei Volltreffer nacheinander«, bemerkte er stolz. »Und später bist du mit Proben dran, habe ich gehört. Ich bin ja mal gespannt, was Taro sich für dich ausgedacht hat.«
Wanja schluckte. Richtig, heute wollte Taro mit ihr ans Trapez, das hatte sie über Schröders Tod vollkommen vergessen. Dabei hatte sie in der Zeit davor ständig daran gedacht. Sogar bei Regen hatte sie an ihrer Reckstange im Garten geübt. Und letzte Woche hatte sie ihren Sportlehrer gefragt, ob sie in ihrer Freistunde einmal das Schultrapez ausprobieren durfte. Sie hatten es im Unterricht noch nie benutzt. Der Lehrer erlaubte es ihr, er musste sowieso den Geräteraum aufräumen. Doch dann stand er da und sah Wanja zu. »Willst du im Zirkus auftreten?«, fragte er, als Wanja mit dem Unterbauch auf der Stange balancierte, Arme und Beine von sich gestreckt. Wanja hatte nur gegrinst.
»Taro ist noch im Wohnwagen«, sagte Perun. »Er müsste gleich kommen oder ihr geht hin und holt ihn ab. Aber vorher«, der Feuerschlucker zeigte mit dem Kopf zu Pati Tatü. »Lasst euch die Hutnummer zeigen. Die ist noch besser als das Einrad.«
Wanja lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Patis Einrad stand jetzt an der Zuschauertribüne und Pati zog ein seltsames Gebilde aus seiner riesigen Fracktasche.
»Was ist das?«,
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