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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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flüsterte Wanja Mischa zu. Mischa legte den Finger an die Lippen und im nächsten Moment sah Wanja, was es war – oder besser gesagt, was es geworden war. Ein kleiner, hoher Tisch. Pati Tatü zog an seinem weißen Einstecktuch in der Frackobertasche. Wanja runzelte vergnügt die Stirn. Kam jetzt wieder der meterlange Schal mit der Mundharmonika? Nein, dieses Taschentuch wuchs sich zu einer großen Tischdecke aus. Eine Sekunde später lag sie auf dem Tisch. Pati warf Wanja einen Handkuss zu, dann zog er seinen Zylinder vom Kopf und stellte ihn mit der Öffnung nach oben auf die weiße Decke.
»Oh, nein«, sagte Wanja kichernd. Unter dem Zylinder steckte noch ein Zylinder, etwas kleiner als der erste. Pati Tatü zog ihn ebenfalls ab und wieder kam ein kleinerer Zylinder darunter zum Vorschein. Wanja musste an die russischen Holzpuppen denken, von denen immer zehn Stück ineinander steckten. Oma hatte ihr mal so eine geschenkt, als Wanja noch klein war.
Mit seinem verschmitzten Kichergesicht stellte Pati Tatü alle Zylinder, die er sich vom Kopf zog, ineinander auf den Tisch, und tatsächlich zückte auch er zehn Mal den Hut, bis unter dem letzten Zylinder ein weißes Ei zum Vorschein kam. Mit der spitzeren Seite nach oben saß es auf Pati Tatüs Blumenkohllocken, als wäre der Kopf des Zauberers ein Nest.
Jetzt grinste auch Mischa, wogegen Pati Tatü eine höchst erstaunte Miene aufsetzte. Er nahm das Ei zwischen beide Finger, schüttelte es, hielt es an sein Ohr, wog es in der Hand, rieb sich den Bauch, runzelte die Stirn, sah auf die Hüte vor sich – und schlug das Ei auf dem Rand des größten Zylinders auf. Den Inhalt ließ er in die Öffnung des kleinsten Hutes fallen, dann zog er einen Rührbesen aus seiner Fracktasche hervor und rührte wild in den Zylindern herum. Als er fertig war, beugte er sich über die Hüte, schaute hinein, kam mit dem Gesicht wieder hoch und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Mit einer blitzartigen Bewegung nahm er die Zylinder in beide Hände, setzte sie auf den Kopf und rollte mit den Augen. Dann zog er den obersten Zylinder wieder ab. Doch statt des nächstkleineren Zylinders saß jetzt etwas anderes darunter. Ein weißes Huhn. Es gackerte und pickte gleich darauf in Patis Blumenkohllocken herum, worauf der Zauberer erschrocken seinen Zylinder darüberstülpte und fluchtartig die Manege verließ.
»Bravo«, rief Wanja ihm hinterher.
Dann stieß Mischa sie an. »Komm, wir schauen, ob Taro in seinem Wagen ist.«
    Der Moment, in dem es schwarz-weiß wurde, dauerte kaum länger als ein Lidschlag. War überhaupt was gewesen? Wanja sah mit gerunzelter Stirn zu Mischa. Der schien nichts bemerkt zu haben. Verdammt, dachte Wanja. Jetzt fang ich auch noch an mir dieses Ungeheuer einzubilden.
    Aber sie hatte sich nichts eingebildet.
Vor Taros Wohnwagen schrie Wanja auf. Auf den Treppenstufen lag ein totes Kaninchen. Es war weiß und über sein Fell liefen blutrote Spuren.
Wanja schlug sich die Hand vors Gesicht und im nächsten Moment kam Taro aus seinem Wagen. »Verflucht«, rief er und Wanja lugte zwischen den Fingern hervor. Mit der anderen Hand krallte sie sich an Mischa fest. An Taro wagte sie sich nicht heran, denn dann hätte sie über das tote Tier steigen müssen.
Taro hob den Kadaver am Genick, trug ihn zum Abgrund hinter seinem Wohnwagen und schleuderte das Tier mit einer wütenden Bewegung in die Tiefe. Da. Da war es wieder. Für einen blitzartigen Moment wurde es schwarz-weiß, dann kam die Farbe zurück. Der Vogel war nicht zu sehen und der Himmel über ihnen strahlte so unverschämt blau, als wollte er alle trüben Gedanken Lügen strafen.
Taro kam zurück und versuchte nicht mal zu lächeln. Er verschwand im Wohnwagen, und als Wanja hinter Mischa eintrat, rieb sich Taro die Hände an einem Handtuch ab. Wanja trat auf ihn zu. »Was will der Vogel von dir, Taro?«
Daran, dass das Kaninchen nicht zufällig vor Taros Wagen gelandet war, bestand kein Zweifel. Der Vogel hatte es dort abgeworfen, so viel war allen dreien klar.
»Aber warum? Taro? Warum nur?«
Taro nahm Wanjas Hände in seine, drückte sie und schüttelte den Kopf. Seine Wut war verflogen. Traurig sah er jetzt aus. Traurig und ratlos.
»Ich weiß es nicht, Wanja, ich habe nicht die geringste Ahnung. Und ich will es auch nicht wissen. Ich will nur, dass es aufhört.«
»Ist«, Wanja schluckte, »ist Sandesh wieder aufgetaucht?«
Wieder schüttelte Taro den Kopf. »Nein. Ich habe überall nach ihm gesucht.

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