Die geheime Reise
wollte. Es war, als hätten sich die Tränen verkrochen, irgendwo tief in ihr, an einem Ort, an den sie nicht herankam. Dabei wäre weinen das Einzige gewesen, was ihr Erleichterung verschafft hätte. Es war einfach zu viel, was in letzter Zeit geschehen war, und das mit Schröder gab Wanja den Rest. Seit er nicht mehr da war, ging sie nur noch mit Wärmflasche ins Bett, und in der ersten Nacht nach seinem Tod schlief sie bei Jo. Sie kuschelten sich aneinander, wie früher, als Wanja noch klein war. Da hatte sie oft bei Jo im Bett geschlafen. Damals hatten sie sich gegenseitig Geschichten erzählt oder sich abwechselnd den Rücken gekrault. In dieser Nacht sprachen sie über Schröder und Jo weinte wieder, bis die Müdigkeit sie übermannte. Über Wanjas herausgeplatzte Bemerkung im Auto hatte Jo kein Wort mehr verloren, aber Wanja dachte an ihren Vater, als sie Jo schon lange leise schnarchen hörte. Wenn Schröder so alt war wie sie, hatte ihr Vater ihn dann vielleicht gekannt? Oder ihn Jo sogar geschenkt?
Am nächsten Morgen klingelte Wanja bei Trockenbrodts und brachte Spiderman zurück. Dann ging sie zur Schule.
»Musst du aber nicht«, sagte Jo.
»Will ich aber«, sagte Wanja.
Zu Hause bleiben ohne Schröder war unvorstellbar. Außerdem wollte sie Mischa sehen. Auch sie sprachen nicht über das, was am Nachmittag zuvor bei ihm passiert war. Aber Mischa legte seine Hand auf ihre Schulter, als Wanja ihm von Schröder erzählte, und Wanja fühlte, dass die Stelle, auf der seine Hand lag, warm wurde, während alles andere in ihr kalt war. Kalt und dunkel.
Und so blieb es, bis am Morgen des 17. Oktobers der Radiowecker ansprang und Wanja mit den Siebenuhrnachrichten weckte. Noch zehn Stunden, dann war Besuchstag.
Als Wanja in die Küche kam, saß Jo schon am Tisch. Sie trug Schwarz, wie sie die ganzen letzten Tage Schwarz getragen hatte. Während des Frühstücks versuchte Wanja ihre Mathehausaufgaben fertig zu machen, jedoch ohne Erfolg. Verdammt, das würde Ärger geben, mehr als Ärger. Mathe hatten sie heute in den ersten beiden Stunden, und wenn es um die Kontrolle der Hausaufgaben ging, war Herr Schönhaupt noch abscheulicher als sonst. Wanja machte sich auf das Schlimmste gefasst und hob erstaunt die Augenbrauen, als um kurz nach acht Frau Gordon in die Klasse trat.
»Herr Schönhaupt hat Magendarmgrippe und ich habe ein Problem. Ich bin in Algebra eine absolute Niete und werde euch diesbezüglich nicht das Geringste beibringen können. Also dachte ich, wir schauen uns zusammen einen Film an – natürlich nur wenn ihr Lust habt, sonst können wir auch Deutsch machen.«
Die Klasse jubelte und Wanja atmete erleichtert aus. Keine Hausaufgabenkontrolle – und mit Glück ein paar mathelose Tage. Die Vorstellung, dass Herr Schönhaupt jetzt mit seinem schmierigen Kopf über der Kloschüssel hing, brachte Wanja zum ersten Mal in all den Tagen zum Grinsen. Der Film, den sie sich im Videoraum anschauten, war der erste Teil einer Jugendserie, aber er sollte wohl eine Anspielung auf die anstehende Klassenreise sein, denn er war in einem kleinen Ort an der Nordsee gedreht worden und dort sollte es in drei Wochen auch für Wanjas Klasse hingehen.
»Es nervt mich einfach total, das wir ausgerechnet in ein solches Kaff fahren müssen«, fing Sue in der Pause wieder an. »Die 9c fährt nach Paris und unsere Parallelklasse zumindest nach Berlin. Und wir? An die Nordsee in ein popeliges Kuhdorf, das ist doch echt der absolute Bullshit. Nicht mal ne Disko gibt es da.«
»Dafür eine berühmte Billardkneipe«, sagte Britta und grinste. »Vielleicht treffen wir da ja ein paar von den Filmstars, die bei der Jugendserie mitmachen. Denen kannst du dann die Adresse von deiner Schwester geben, dann kommen sie nach Hollywood.«
»Sehr witzig.« Sue verzog das Gesicht und Britta strich sich ihre Haare aus dem Gesicht. Sie war jetzt jeden Tag geschminkt. Heute trug sie grünen Lidschatten, passend zum Angorapulli und Rouge und Lippenstift hatte sie auch aufgelegt. Nicht mal Sue mit ihrer Stylistenschwester Marcy lief in der Schule so rum. Aber Wanja verkniff sich ihre Kommentare, so wie Britta sich inzwischen ihre Bemerkungen über Mischa verkniff. Seit ihrem letzten Streit – besonders nach Schröders Tod – herrschte bemühte Freundlichkeit zwischen ihnen, aber Wanja wusste, dass Mischa hinter ihrem Rücken Thema Nummer eins war.
Wo steckte Mischa überhaupt? Auf dem Schulhof war er nirgends zu sehen und dann fiel es
Weitere Kostenlose Bücher