Die geheime Sammlung
Sechs, falls ihr irgendwelche Probleme habt.«
Anjali wies mir den Stuhl zu, auf dem Sarah gesessen hatte. Dann zog sie einen weiteren Drehstuhl vor das Rohrgewirr, aus dem die Pneus herausschossen.
»Eigentlich arbeiten wir hier in einer Vermittlungsstelle«, erzählte sie mir. »Alle Rohrpoststationen im gesamten Gebäude haben ein Rohr, das zu uns führt. Einige sind auch direkt miteinander verbunden, aber die meisten nicht. Wenn also zum Beispiel jemand einen Pneu aus Magazin vier in Magazin sieben schicken will, dann muss er hier, bei uns, durch.«
»Das hört sich nach einer Menge Arbeit an«, sagte ich.
»Das stimmt. Wir müssen sie schnell weiterschicken, oder das ganze System kommt ins Stocken. Und man kann sehr leicht Fehler machen. Aber mach dir nicht zu viele Gedanken: Wenn du einen Pneu in das falsche Magazin schickst, dann schicken sie ihn einfach hierher zurück.«
Die Arbeit war anstrengend, aber auch anregend, wie ein Computerspiel. Ich musste Tausende von Regeln beachten. Alles in einem roten Pneu ging in Magazin 6 , wo die Bibliothekare ihre Büros hatten. Blaue gingen direkt zu Dr.Rust. Pneus mit Bestellzetteln mussten in das entsprechende Magazin. Ich musste lernen, welche Sammlung in welchem Magazin war. Werkzeuge waren in Magazin 5 , Haushaltswaren in 9 , fungible Objekte in 8 .
»Was in Dreigottesnamen sollen fungible Objekte sein?«, fragte ich Anjali.
»Etwas, das ziemlich oft ersetzt werden muss.«
»Du meinst so was wie Glühbirnen und Papierhandtücher?«
»Nein, das ist bei den Ephemera, den Eintagsfliegen in Magazin drei. Nun, die Papierhandtücher zumindest. Glühbirnen sind an verschiedenen Plätzen. Einige findest du in der Fünf, Werkzeuge und wissenschaftliche Instrumente; einige in der Neun, Haushaltswaren.«
»Oh, gut. Aber was sind fungible Objekte?«
»Pflanzen und Tiere.«
»Was? Du spinnst! Ist das hier ein Zoo, oder was? Können sich die Leute eine Giraffe ausleihen?
Anjali grinste. »Das bezweifle ich. Ich glaube, wir haben keine Giraffen in der Sammlung. Und wenn, dann wären die sowieso im Annex.«
»Was ist der Annex?«
»Eigentlich heißt Annex Anhang, aber bei uns ist es das externe Großlager. Das sind die Bestellzettel, die mit einem *A beginnen. Hier ist einer, nein, das ist verwischt, das ist ein *W.«
»Was bedeutet *W?«
»Wertgegenstände. Sie werden zusammen mit den anderen Gegenständen ihrer Kategorie in den Magazinen aufbewahrt. Pagen dürfen diese Bestellungen nicht bearbeiten. Nur die Bibliothekare haben die Schlüssel, also schickst du *W-Bestellzettel in Magazin sechs.«
»Alles klar, so was wie Marie Antoinettes Perücke?«, fragte ich. »Ms.Callender hat sie mir in einem verschlossenen Raum in Magazin zwei gezeigt.«
»Genau.«
Ich schickte eine Anfrage für eine Teekanne in Magazin 9 , eine für eine Gitarre in Magazin 4 und drei für Hüte in Magazin 2 .
Es dauerte eine Weile, bis ich die Röhren selbst im Griff hatte. Ständig klemmte ich mir den Daumen in den Türen ein. Aber schließlich verfiel ich in eine Art meditativen Rhythmus. Meine Hände flogen gelassen vom Korb zur Röhre. Das Zischen, Rasseln und Knarren der Maschinen wurde für mich zu Waldgeräuschen, dem Rauschen eines Wasserfalls, dem Rascheln der Blätter, dem Keckern der Eichhörnchen. Aus den Augenwinkeln schienen sich die Dinge in den Bleiglasfenstern zu bewegen – Vögel, Äste, Wasser –, aber ich wusste, dass das nicht möglich war.
Ein Bestellzettel mit der Aufschrift * WE landete im Korb. »Was bedeutet * WE ?«, fragte ich Anjali.
»Das ist das Wells-Erbe, direkt neben dem Grimm-Sammelsurium. Schick sie nach unten in das Verlies, Magazin eins.«
Schon wieder das Verlies. Das war offensichtlich der Ort, an dem die interessanten Sachen aufbewahrt wurden. »Was steht im Wells-Erbe?«, fragte ich.
Anjali holte tief Luft und sah zur Seite. Ich war mir sicher, sie bereitete sich darauf vor, meiner Frage auszuweichen, also sagte ich schnell: »Dr.Rust sagte mir, das Grimm-Sammelsurium wäre voller Dinge aus dem Bestand der Grimms, die sie erworben haben, als sie die Märchen sammelten.« Ich hoffte, Anjali würde das als Erlaubnis sehen zu reden. »Steht im Wells-Erbe noch mehr Kram aus Märchen?«
Es funktionierte. »So in der Art«, sagte sie. »Es geht um Science Fiction. Es ist nach H. G. Wells benannt, dem Autor von
Die Zeitmaschine.
«
»Und was ist nun in der Sammlung? Eine Zeitmaschine gibt es da wohl auch?«, scherzte ich.
Marc hörte mir
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