Die geheime Stunde
drei Jahren gewesen sein. Als Sie am Fall Caleb Jenkins gearbeitet haben.«
»Damals steckte das Ganze noch in den Kinderschuhen, verglichen mit dem, was Sie gleich sehen werden. Übrigens, wie geht es Caleb?«
»Gut, nach Aussagen seiner Mutter, er arbeitet für seinen Vater.«
Der Doktor nickte zufrieden. »Freut mich zu hören. Das Wissen, dass mein Gutachten einen jungen Mann wegen einer Torheit, eines Dumme-Jungen-Streichs im Wesentlichen, vor dem Gefängnis bewahrt hat, gibt mir ein gutes Gefühl. Damit erhält er noch eine Chance, etwas aus seinem Leben zu machen. Wenn es für meine anderen Patienten nur genauso einfach wäre …«
John nickte.
»Ich würde Ihnen gerne zeigen, wie ich heute in meiner Klinik arbeite. Und eines vorweg: Unser Klient erhält meiner Meinung nach mehr Hilfe, als ich anderen Männern zuteil werden lasse, die weniger auf ihre Obsessionen fixiert sind … im Lauf der Monate habe ich mir ein ganz gutes Bild von ihm machen können.«
»Das ist mir klar. Vielen Dank, ich weiß Ihr Engagement zu schätzen.«
»Gern geschehen«, sagte Beckwith. »Man hat nicht jeden Tag die Gelegenheit, mit jemandem wie ihm zu arbeiten.«
John blieb ihm die Antwort schuldig. Die Worte wollten einfach nicht über seine Lippen, und er verspürte eine leichte Übelkeit.
Beckwiths Forschungszentrum war im einzigen Hochhaus der Universität untergebracht. Die Stiftung, mit staatlichen und privaten Mitteln finanziert, belegte das gesamte zwanzigste Stockwerk und bot einen Ausblick auf die im Kolonialstil errichteten Backsteingebäude des College Hill, die bonbonfarbenen Häuser der Fischerfamilien am Fox Point und die Narragansett Bay, die schimmernd zum Atlantik abfiel.
Im Gegensatz zu dem atemberaubenden Panorama, das sich draußen entfaltete, bot das Innere des Forschungszentrums Einblick in eine unvorstellbare Welt der Gewalt, der morbiden Fantasie und der sexuellen Perversion. Der Doktor zeigte John Räume für Videovorführungen und Rollenspiele, eine Maschine, die den Grad der sexuellen Erregung maß, und ein Labor, in dem es nach verwesendem Fisch stank.
»Was ist denn das?«, fragte John.
»Oh, eine meiner negativen Rückmeldungsmethoden.« Der Doktor schnitt eine Grimasse. »Meine Patienten lernen, Ekel erregende Gerüche mit ihren Gewaltfantasien zu assoziieren. Dann werden sie an einen Monitor angeschlossen und aufgefordert, über ihre Vergewaltigungen zu sprechen, wobei das Ausmaß der sexuellen Erregung gemessen wird. Ist der höchste Punkt der Kurve erreicht, hole ich den toten Fisch heraus, und der Gestank setzt jeglichem Lustgefühl ein Ende.«
»Und das funktioniert?«
»Ja, manchmal schon – kann aber Jahre dauern. Die Fantasievorstellungen rufen keine Erektion mehr bei dem Patienten hervor.«
»Aha …«
»Diese Leute – in der Mehrzahl Männer – werden zu mir geschickt, wenn nichts anderes mehr hilft. Sie haben ihre Haftstrafe verbüßt; bei den meisten wurde vom Gericht eine Therapie angeordnet, obwohl niemand glaubt, dass sie etwas bringt. Lehrer, die Schülerinnen belästigt haben, Zahnärzte, die ihren Patientinnen zu nahe getreten sind, Männer, die wegen Vergewaltigung verurteilt wurden …«
»Meine Klientel«, warf John trocken ein, als sie ihren Rundgang durch das Stockwerk fortsetzten. »So sieht also Ihre ›Hilfe‹ aus.«
»Ja, ich korrigiere gewissermaßen ihre Fantasievorstellungen. Ich versuche, alte Programmierungen zu löschen, und beginne wieder bei Null. Die Sexualität ist eine rätselhafte Sache, wissen Sie. Mit den sexuellen Aktivitäten an sich verbringen die Menschen vergleichsweise wenig Zeit. Ihre Gedanken, ihre Fantasien nehmen wesentlich mehr Raum ein, und hier beginnen die Probleme. Jeder von uns – jedes menschliche Wesen auf unserem Planeten – wurde mit einem machtvollen Sexualtrieb geboren. Andernfalls wäre unsere Spezies schon längst ausgestorben.«
»Ich glaube nicht, dass sich unsere Klientel übermäßig Gedanken um den Erhalt der Art macht.« Wieder überkam ihn eine Welle der Übelkeit. Er wusste, dass diese Reaktion emotional bedingt war; zwiespältige Gefühle gegenüber der Arbeit, die er verrichtete, und den Menschen, die er anwaltschaftlich vertrat, hatten sich schon einige Zeit aufgestaut. Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht und das Weite gesucht, mit dem Fahrstuhl nach unten und nichts wie weg. Aber er zwang sich auszuharren.
»Das ist richtig. Aber auch dann, wenn der Sexualtrieb mit
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