Die geheime Stunde
schließlich, aber dahinter steht noch mehr …«
John biss die Zähne zusammen.
»Nämlich der Wunsch, sie zu besitzen, Macht über ihre Seele zu gewinnen. Seine Fantasie beinhaltet das Bestreben, sie noch eine Stunde, nachdem er sie mit zahlreichen Messerstichen verletzt hat, in den Wellenbrechern am Leben zu erhalten. Er leistet ihnen Gesellschaft, bis die Flut steigt, sitzt bis zur letzten Minute bei ihnen und geht, bevor er nasse Füße bekommt. Immer knapp außer Sichtweite des Strandes, der vorbeifahrenden Boote.«
»Warum?«, fragte John entsetzt und voller Abscheu.
»Damit die Frauen spüren, wie nahe sie dem Tod sind – und, zur gleichen Zeit, Hilfe und Rettung.«
John wartete, während der Doktor fortfuhr.
»Er spürt den archaischen Sog der Gezeiten … das Meer ist weiblich für Merrill. Eine Art Urmutter, die über die Macht verfügt, zu geben und zu nehmen. Sie nährt ihre Brut, bevor sie sie verschlingt. Sein pathologischer Zustand schließt den Hass auf seine leibliche Mutter ein. Sie war dominierend und besitzergreifend, aber sie arbeitete schwer, machte Überstunden, weil ihr Sohn es einmal besser haben sollte. Merrill glaubt, wenn es ihm gelingt, seine Opfer eine Zeit lang am Leben zu erhalten, während das Wasser ringsum steigt und sie diese archaische Erfahrung teilen, werden sie ihm für immer gehören.«
»Das glaubt er
wirklich?
Das ist nicht nur eine Metapher … ein Versuch, uns hinters Licht zu führen?«
»Mich führt kein Patient hinters Licht«, erwiderte Dr. Beckwith mit einem belustigten Lächeln.
»Tut mir Leid. Ich hätte nur für mich sprechen sollen. Ich wurde schon von einigen getäuscht, die es zu wahrer Meisterschaft in dieser Kunst gebracht haben. Ich war hundertprozentig von der Geschichte eines Mandanten überzeugt, bis ich herausfand, dass er mich die ganze Zeit belogen hatte.«
Beckwith schüttelte den Kopf. Ein amüsiertes Lächeln, vielleicht aufgrund von Johns Gutgläubigkeit, überzog sein schmales Gesicht. »Von Merrill werden Sie diesbezüglich keine Lügen hören. Nicht, was diesen wichtigen Punkt angeht. Sein Bedürfnis nach Macht und Kontrolle über die Mädchen ist überwältigend, was man auch aus seiner typischen Vorgehensweise schließen kann: Er hat sie entführt, in seinen Lieferwagen gelockt, sie darin gefangen gehalten, den Mund mit Klebestreifen verschlossen, sie immer wieder missbraucht und verletzt, sie langsam und qualvoll umgebracht.«
»Und sie am Leben erhalten, aufgespart für diese letzte Stunde, während das Wasser steigt …« John stellte sich vor, wie Willa nach Luft rang, auf den Tod wartete … Das Bild war so furchtbar, dass ihm bei dem Gedanken graute, Kate könnte davon erfahren.
»Ja, in gewisser Hinsicht betrachtet er das Meer – seine Mutter – als Komplizin. Obwohl er es vehement bestreitet, braucht er ›ihr‹ Einverständnis. Er überlässt es ihr, die Tat zu vollenden.«
»Er besitzt ein ausgeprägtes, intuitives Gespür«, sagte John, den Gedanken an Kates Schmerz abschüttelnd. »Er ahnt bereits, dass er in kein bestehendes Lehrbuch-Schema passt und Sie dabei sind, ein brandneues Täterprofil zu entwickeln. Er sagte, Sie würden ihn als ›Zombiemacher‹ betrachten.«
Der Doktor lachte über diesen Anflug von schwarzem Humor. »Tut mir Leid, wenn ich unseren Klienten enttäuschen muss, aber er war nicht der Erste. Der homosexuelle Serienmörder Dahmer hatte schon vor ihm die Idee, eines seiner Opfer in einen Zombie zu verwandeln. Nein, was Gregory Merrill von allen anderen unterscheidet, ist sein Bedürfnis, Frauen zu beherrschen und gleichzeitig von einer einzigen weiblichen Macht beherrscht zu werden.«
»Dem Meer«, sagte John und fragte sich, ob Willa Harris’ Leiche in irgendeinem Wellenbrecher versteckt war. »Der steigenden Flut.«
»Sie haben es erfasst.«
John warf einen Blick auf seine Uhr. Er hatte noch einen anstrengenden Nachmittag im Büro vor sich, und danach wollte er Maggies Hausarrest beenden und eine Radtour mit ihr machen. »Unsere Verteidigung baut also auf der Strategie auf, verminderte Schuldfähigkeit aufgrund einer schweren sexuellen Störung geltend zu machen.«
»So ist es, höchstwahrscheinlich.«
»Danke, Doktor.« John reichte ihm zum Abschied die Hand und verließ das Büro. Er blieb im Vorzimmer stehen und wartete, bis Beckwiths Assistentin die Formulare mit den Einverständniserklärungen seines Mandanten fotokopiert hatte.
Er bedankte sich bei ihr und dem
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