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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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handgeknüpfte Teppich ihrer Großmutter aus Chincoteague, wunderschöne Aquarelle von Dünen und Meeresbuchten.
    Sie machte es sich in ihrem Lieblingssessel bequem und holte den kleinen blauen Umschlag aus der Umhängetasche. Ihr Name war in großen kindlichen Druckbuchstaben geschrieben, der Rest der Adresse in einer gestochen scharfen Handschrift hinzugefügt, die offensichtlich einem Erwachsenen gehörte.
    Ihre Schultern entspannten sich bereits, wenn sie nur den Poststempel SILVER BAY CT betrachtete. Energie schien von dem Papier in ihre Fingerspitzen überzugehen, als sie den Brief öffnete und zu lesen begann.
    Er war von Maggie, sie bedankte sich für den weißen Schal. Teddy hatte ein paar Zeilen hinzugefügt. Kate las den Brief zweimal von Anfang bis Ende. Obwohl John keinen Gruß mitgeschickt hatte, stammte die Handschrift auf dem Umschlag von ihm. Maggie hatte ihn wahrscheinlich gebeten, ihn für sie zu adressieren.
    Den Brief in der einen und den Umschlag in der anderen Hand haltend, schloss Kate die Augen. Sie dachte an den heimlichen Aufbruch ihrer Schwester nach Neuengland, an ihren Bruder, der allein in seiner heruntergekommenen Fischerhütte in den Fichtenwäldern von Chincoteague hauste, umgeben von Austernhalden. Eine Familie war mitunter eine kurzlebige Gemeinschaft. Ihre eigene Familie schien für sie verloren zu sein, aber dafür hatte sie ein neues, seltsam inniges Gefühl der Verbundenheit gewonnen, das aus einer völlig unvermuteten Richtung kam …
    »Brainer lässt dich grüßen«, sagte sie laut zu Bonnie.
    Als hätte sie den Scotchterrier damit zum glücklichsten Hund in ganz Washington gemacht, sprang er neben Kate auf den Sessel und leckte sich die Pfoten. Die beiden saßen aneinander geschmiegt da, träumten vom Norden und lauschten dem Knistern und Prasseln des Feuers im Kamin. Kate spürte die Wärme des kleinen Hundes und erinnerte sich daran, wie John sie in den Armen gehalten hatte.
    Was er wohl gedacht haben mochte, als er den Umschlag adressierte?
    Erinnerte er sich an den Kuss? Hätte er ihn gerne wiederholt?
    Kate schloss die Augen, presste den Umschlag an die Brust. Solche Gefühle waren ihr völlig fremd, erschreckten sie. Schließlich kannte sie John O’Rourke kaum. Er gehörte zum »feindlichen Lager«, war der Anwalt des Mannes, den sie verdächtigte, ihre Schwester gewaltsam entführt zu haben.
    Aber er war mehr als das. Er war auch ein allein erziehender Vater, der seine Frau auf die denkbar schlimmste Weise verloren hatte. Ihr Tod kam unerwartet, auf einer einsamen Straße, möglicherweise auf dem Heimweg von einem anderen Mann. Kate verstand, in welche emotionale Krise John damit gestürzt worden war. Liebe, Verrat und dann ein unwiederbringlicher Verlust: ein Schicksal, das anzunehmen ihr unmöglich erschien. Zumindest konnte Kate noch nicht damit beginnen.

[home]
    16
    D a Dr. Beckwith nicht dazu gekommen war, John zu Hause anzurufen – einer seiner Patienten hatte eine Krise gehabt –, trafen sich die beiden Männer am darauf folgenden Tag in Providence. John, erpicht darauf, die neuesten technischen Errungenschaften in dem ständig expandierenden Tätigkeitsfeld des Doktors zu sehen, besuchte ihn in seiner Klinik.
    »Ich bin überrascht, dass Sie noch Zeit für Gutachten finden«, staunte John. Während er sich in dem Büro umsah, kam ihm Willa Harris in den Sinn. Wo mochte sie stecken? Hatte ihr gemeinsamer Klient etwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Wie mochte Kate zumute sein, die nach Washington zurückgekehrt war, ohne etwas Neues über das Schicksal ihrer Schwester zu erfahren?
    »Ich weiß«, erwiderte Beckwith zerknirscht. »Es gibt so viele, die der Hilfe bedürfen. Wie Sie wissen, arbeite ich überwiegend mit Sexualstraftätern. Die Gesellschaft würde sie am liebsten ein für alle Mal wegsperren, am besten in einem finsteren Verlies, aber auch sie sind Menschen. Sie können mich für verrückt erklären, aber ich denke, dass ich etwas bewirken kann.«
    John nickte, und der Doktor lachte.
    »Aber wem sage ich das, bei Ihnen renne ich offene Türen ein; wir sitzen im selben Boot. Ich weiß, dass Sie ein viel beschäftigter Mann sind, fangen wir also mit einem Rundgang an, damit Sie sich über die neuesten Errungenschaften der Forschung informieren können. Die Mittel fließen seit geraumer Zeit freizügiger, es ist also einiges seit Ihrem letzten Besuch hinzugekommen. Wann war das noch gleich?«
    John runzelte die Stirn, überlegte.
    »Muss vor

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