Die geheime Stunde
Doktor, dann fuhr er mit dem Lift nach unten. Auf dem Rückweg zu seinem Wagen, den er in der Thayer Street geparkt hatte, erstand er einen Becher Kaffee für die Rückfahrt nach Connecticut und dachte über den Sinn und Zweck der Arbeit nach, die Beckwith und er leisteten. Der Doktor hatte sich zum Ziel gesetzt, Menschen zu helfen, sie besser zu verstehen.
Genau das wollte John bei Kate erreichen.
Seit er in ihrem Auto auf dem Parkplatz in Fairhaven Zeuge ihrer Verzweiflung geworden war, hatte er gespürt, wie sich auch in seinem Innern etwas löste und freigesetzt wurde. Als Strafverteidiger befand er sich damit in einer unhaltbaren Position.
Während Beckwith seine Patienten schilderte, hatte er gemerkt, dass der Abscheu und Hass in ihm immer größer wurden. Seit er den Fall Merrill übernommen hatte, war er gezwungen gewesen, sich eingehender mit dem Leben der Opfer zu befassen, sie sich – so gut er es vermochte – als junge Frauen vorzustellen, mit Hoffnungen, Träumen und Angehörigen, die sie liebten.
Er kannte ihre Namen auswendig. Doch ungeachtet seines Wunsches, ihre menschlichen Eigenschaften zu ergründen, kannte er keine von ihnen persönlich. Er hatte keine ihrer Schwestern im Arm gehalten, sie im kalten Novemberwind geküsst.
Johns Arbeit erschöpfte sich nicht länger in grauer Theorie, in einer Verteidigungsstrategie, die sich auf ein psychiatrisches Fundament stützte. Nicht nur unbekannte Angehörige saßen auf der anderen Seite des Gerichtssaals und hassten ihn, weil er den Mörder des Menschen vertrat, den sie geliebt hatten. Diese Angehörige hatte plötzlich einen Namen bekommen, ein Gesicht und Augen, die direkt in seine Seele blickten: Kate.
Es spielte keine Rolle, ob ihre Schwester wirklich Greg Merrills Weg gekreuzt hatte, John wusste, dass er eine Verkörperung des Bösen verteidigte, das ihr Familienleben vernichtet hatte. Sogar Teddy predigte ihm dauernd: »Merrill hat die Tat begangen, die ihm zur Last gelegt wird – er hat Mädchen umgebracht, Familien zerstört. Er verdient seine Strafe. Das sagt jeder, Dad.«
Er langte in seine Tasche, zog Kates Visitenkarte hervor. Er würde sie anrufen, sie fragen, ob sie den Brief seiner Kinder erhalten hatte. Er würde sich erkundigen, wie sie sich fühlte, ob sie seit ihrer Rückkehr innerlich zur Ruhe gekommen war, und seiner Hoffnung Ausdruck verleihen, es gehe ihr gut.
Doch genau in dem Moment, als er sein Handy aufklappte und ihre Nummer wählen wollte, läutete es.
»Hallo?« Sein Herz klopfte; er dachte einen Moment lang, Kate Harris sei am Telefon, und fühlte sich nach Fairhaven zurückversetzt, wo sie sich zur selben Zeit am gleichen Ort begegnet waren, spürte den Zauber erneut.
»Johnny? Billy hier.« Billy Manning, dessen tiefe Stimme aufgeregt klang. »Ich verstoße gerade gegen sämtliche Regeln im Polizeihandbuch, um dich zu informieren. Du solltest schleunigst nach Point Heron kommen – zum Wellenbrecher.«
»Was redest du da?«
»Wir haben einen Nachahmungstäter …«
»Eine Tote?« John spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss.
»Ja. Im Wellenbrecher verkeilt.«
»Wie lange tot?« Johns Stimme war nur mehr ein heiseres Krächzen. Wenn es Willa war, wenn Greg sie getötet hatte, würde inzwischen nur noch ein Skelett übrig sein, und er betete, dass Billy kein Skelett gefunden hatte …
»Nicht lange. Sie war höchstens einen Gezeitenwechsel unter Wasser. Er hat sie vor Morgengrauen ihrem Schicksal überlassen, mit Einsetzen der Flut. Genau wie Merrill, John. Der Kerl scheint dessen Handschrift genau zu kennen.«
»Gut«, sagte John ruhig.
»Gut? Hast du den Verstand verloren? Los, beeil dich und komm her, bevor du die Gelegenheit verpasst, dir anzuschauen, was wir gefunden haben. Und erzähl ja niemandem, woher du deine Informationen hast.«
»Bin schon unterwegs«, erwiderte John und brauste los. Point Heron war ungefähr eine Dreiviertelstunde von Providence entfernt, hinter Silver Bay, in östlicher Richtung.
Gut
. Seine Bemerkung hatte nichts mit dem Nachahmungstäter zu tun, der Gregs Handschrift kannte.
Gut,
weil kein Skelett bedeutete, dass die Tote nicht schon seit einem halben Jahr dort lag, dass sie nicht Willa Harris sein konnte;
gut,
weil Kate dieses Grauen erspart blieb. Sonst nichts, sonst war nichts, überhaupt nichts
gut
an dem, was Billy ihm am Telefon berichtet hatte.
Nicht das Geringste.
Eine Menschenmenge hatte sich eingefunden, um die Polizei bei ihrer Arbeit zu
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