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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Körnern gütlich zu tun. Justitia, die Personifikation der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, schien blind für die chaotische, menschliche Realität zu sein.
    »Weil du nicht aus Stein bist«, sagte der Richter mit Blick auf die Statue. »Sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, der ein Herz hat.«
    »Ich muss das Mandat im Fall Merrill niederlegen, wegen Befangenheit.«
    »Glaubst du, jemand anderer sei in der Lage, bessere Arbeit zu leisten? Den Fall unentgeltlich zu übernehmen, Freunden und Nachbarn mit ihren Fallstricken und Pfeilen den Wind aus den Segeln zu nehmen, sich den verzwickten moralischen Fragen zu stellen?«
    »Ich kann nur für mich sprechen, nicht für sie.«
    »Dir scheint es ernst zu sein.« Der Richter war entgeistert. Sein Sohn zog es offenbar wirklich in Betracht, als Merrills Anwalt das Handtuch zu werfen.
    »Ja. Ich bin heute mit Dr. Beckwith verabredet, und das war’s dann. Wir wollten uns mit Merrill treffen, Beckwiths Erkenntnisse durchsprechen und eine Verteidigungsstrategie entwickeln, um mildernde Umstände aufgrund seiner schweren mentalen Störung geltend zu machen. Aber ich kann nicht mehr.«
    »Weil du nicht daran glaubst?«
    »Weil es mich krank macht. Weil ich keine Lust mehr habe, in Greg Merrills Kopf herumzuwühlen.«
    Der Richter ließ sich an das Fußende des Bettes niedersinken. Der Hund, der die ganze Zeit vor dem Bett gelegen hatte, drehte sich herum und legte seinen Kopf auf die Knie des Richters, schmutzige goldene Fellhaare verteilten sich auf dem feinen Gabardine.
    »Ich habe es kommen sehen«, sagte der Richter nachdenklich. »Wie ich schon sagte, ich weiß, wie es dir geht. Wenn man ausgebrannt ist, fühlt man sich, als gäbe es keinen Ausweg. Habe ich Recht?«
    »Ja. Ich bekomme einfach nicht mehr diese Bilder aus meinem Kopf. Merrills Verbrechen … Ich kenne seine Denkmuster, seine Fantasien … Phil Beckwith meint, er sei ein hochkarätiger Fall, ein Perverser, der in keine der gängigen medizinischen Kategorien passt und beinahe eine eigene verdient. Ich möchte das Ganze vergessen.«
    »Dich unter der Decke verkriechen …«
    »Oder mich beruflich ganz ausklinken.«
    »Deshalb gibt es so viele Säufer in unserem Metier. Es geht nichts über einen kleinen medizinisch verordneten Single-Malt-Scotch nach einer langen Gerichtsverhandlung, um zu vergessen, was unsere Arbeit beinhaltet … Apropos, eine gute Idee, finde ich.« Der Richter schmunzelte. »Was meinst du?«
    »Am helllichten Tag?«, entgegnete John. Dennoch hievte er sich auf den Ellenbogen und schwang die Beine über die Bettkante.
    »Ist besser als schlafen«, befand der Richter. »Das kannst du dir für später aufheben, wenn du im Ruhestand bist.«
    Die beiden Männer gingen nach unten, in das Arbeitszimmer des Richters. Brainer heftete sich an ihre Fersen, blieb vor den hohen Fenstern stehen, die zur Straße hinausgingen, und spähte nach draußen – als wollte er sehen, ob Kate vielleicht noch da war. Der Richter ertappte John dabei, wie dieser ebenfalls hinausblickte, und verbarg ein Lächeln.
    Er holte zwei schwere Kristallgläser und eine handgeschliffene Waterford-Karaffe aus der Mahagoni-Anrichte. Er entfernte den Stöpsel und schnupperte mit geschlossenen Augen an dem Whiskey, um ihn angemessen zu würdigen.
    »Dazu braucht es kein Eis«, sagte er und goss ein.
    »Was ist das für ein Gebräu?«
    »Ein Talisker, zwanzig Jahre alt.«
    Der Richter reichte seinem Sohn ein Glas, und die beiden Männer stießen miteinander an.
    »Auf die Anwälte«, sagte der Richter.
    John zögerte, doch dann trank er. Sein Vater auch. Sie leerten die Gläser in einem Zug, als wäre es ein Fingerhut voll. Dann schenkte der Richter nach.
    »Der ist mit Vorsicht zu genießen!« Der Richter stöpselte die Karaffe wieder zu. »Macht selbst aus erstklassigen Anwälten Alkoholiker.«
    »Ich weiß.« John trank einen Schluck. »Als Kind sah ich sie durchs Gerichtsgebäude wanken, die alten Trunkenbolde … meistens Iren wie Brady und O’Neill … Ich verachtete sie unsäglich. Rote Gesichter, blutunterlaufene Augen, nach Schnaps stinkend …«
    Der Richter nickte.
    »Jetzt verstehe ich sie.«
    »Wie das, mein Sohn?«
    »Es war der Beruf.« John nahm noch einen Schluck. »Sie mussten ebenfalls Kreaturen wie Merrill vor Gericht vertreten …«
    Wieder nickte der Richter, hörte schweigend zu.
    »Sie waren zu empfindsam, um es einfach wegzustecken. Was sagte Mom immer über Irland? Sie nannte es das ›Tal

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