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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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das aus eigener Erfahrung. Nur wenige Strafverteidiger sind meines Wissens davon verschont geblieben. Wie könnten wir auch? Bei uns geht es um Menschenleben, mein Sohn. Das ist kein Job wie jeder andere, bei dem wir nach Feierabend die Tür hinter uns zumachen können. Wir müssen uns mit Fragen um Leben und Tod auseinander setzen, im Hinblick auf unsere Tätigkeit – und auf das Verhalten anderer.«
    Obwohl John stumm blieb, erkannte der Richter, dass er seine Aufmerksamkeit geweckt hatte: Das Kissen war ein Stück zur Seite geglitten, enthüllte sein rechtes Ohr.
    »Bevor ich Richter wurde, habe ich das Gleiche getan wie du. Menschen vor Gericht verteidigt. Einige waren unschuldig, andere nicht. Ich hatte einmal einen ähnlichen Fall, an den du dich vielleicht erinnerst. Jack Carsey. Ein Mann, der ein junges Mädchen aus unserer Stadt entführt und umgebracht hatte. Du hast die gerichtsmedizinischen Fotos gesehen und eine Woche nicht schlafen können.«
    »Ich erinnere mich«, sagte John, den Mund im Kissen.
    »Deine Mutter war wütend auf mich. Nicht nur, weil du völlig aufgelöst warst oder die Leute mich wegen meiner Arbeit hassten – sondern weil ich einen
Schurken
verteidigte. Das sagte sie wörtlich zu mir und – ich weiß nicht, ob du dich an die Stimme deiner Mutter erinnern kannst …«
    »Kann ich.«
    Der Richter nickte. Leila war eine altmodische Frau gewesen; wie viele Frauen ihrer Zeit hatte sie trotz ihres wachen Verstandes und ihrer vielfältigen Talente beschlossen, sich auf die Rolle der Hausfrau und Mutter zu beschränken. Doch wenn sie ihre Meinung äußerte, hatte ihre Stimme die gleiche Wirkung wie ein Plädoyer von Louis Brandeis vor Gericht. »›Patty‹, sagte sie zu mir …« Er hüstelte. »Sie war die Einzige, die mich ungestraft ›Patty‹ nennen durfte.«
    »Ich weiß.« John zog das Kissen ganz von seinem Kopf weg und blickte auf.
    »›Patty‹, sagte sie also, ›ich möchte, dass du die Verteidigung von Jack Carsey niederlegst.‹«
    »Ja, das konnte ich sogar hören«, sagte John.
    »Sie wollte, dass ich den Fall abgab. Schlug mir vor, über mein Leben nachzudenken – unser Leben –, um herauszufinden, was mir wirklich wichtig war. Erinnerte mich an meine katholische Erziehung, mein Rechts- und Unrechtsbewusstsein. Riet mir …«
    »Deinen moralischen Kompass zu überprüfen.«
    »Ja«, erwiderte sein Vater, Leilas Worte immer noch im Ohr. »Und dann sagte sie – man stelle sich das vor! Sie sagte: ›Patty – du hilfst diesem Menschen, mit einem Mord davonzukommen.‹«
    Der Richter sah, wie sein Sohn bei diesen Worten die Augen schloss. Ein Aufruhr der Gefühle spiegelte sich in seinem Gesicht wider, ähnlich wie eine Seekrankheit, gepaart mit abgrundtiefer Verzweiflung.
    »Kommt dir das bekannt vor, mein Sohn?«
    »Genau wie bei uns. Teddy sagt das Gleiche.«
    »Und was sagst du?«
    »Ich sage mir, dass ich für die in der Verfassung verbrieften Rechte eines Menschen eintrete, dass George Washington in Philadelphia genau das im Sinn hatte … dass selbst ein Greg Merrill das Recht auf einen fairen Prozess hat … und auf juristischen Beistand …«
    »Aber  … ?«
    »Aber dann sehe ich Amanda Martins Hand vor mir. Sie war schneeweiß, Dad. Die Finger waren gespreizt, zum Himmel emporgestreckt … als wollte sie nach einer Rettungsleine greifen.«
    Der Richter hörte aufmerksam zu.
    »Und ich sehe Kate Harris … die Frau, die vorhin hier war.«
    »Ja?«
    »Ihre Schwester Willa wird vermisst. Kate ist die Frau, die ich zufällig in Fairhaven getroffen habe. Deretwegen ich gegen meine Schweigepflicht als Anwalt verstoßen habe.«
    »Dachte ich mir schon.«
    John blickte seinen Vater freimütig an. Obwohl er immer noch regungslos auf dem Rücken lag, begannen seine Augen zu blitzen. »Wieso?«
    »Sie ist bildschön. Ihr hätte ich auch nicht widerstehen können.«
    »Das ist kein Kavaliersdelikt! Das könnte mich meine Zulassung als Anwalt kosten. Aber die Sache ist die …«
    »Dass du beim nächsten Mal genauso handeln würdest«, sagte der Richter.
    »Woher weißt du das?«
    Der Richter seufzte. Wenn er vom Schlafzimmerfenster in den Garten hinuntersah, fiel sein Blick auf Justitia, eine Skulptur, die Leila dort aufgestellt hatte. Da stand sie, mit der Binde vor den Augen, und hielt die Waage hoch. Maeve besaß die Angewohnheit, Vogelfutter in den Waagschalen auszustreuen; Sperlinge und Kardinalvögel ließen sich darauf nieder, um sich an den

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