Die geheime Stunde
Willa, an die herrlichen Urlaube, die sie gemeinsam verbracht hatten …
In vielen Sommerferien waren sie dabei »auf den Spuren Amelias gewandelt«. Im Lauf der Jahre hatten sie etliche Orte besucht, die wichtige Meilensteine in Amelia Earharts Leben waren: das Haus ihrer Großeltern in Atchinson, Kansas, wo sie geboren wurde; Des Moines, wo sie anlässlich der Iowa State Fair zum ersten Mal ein Flugzeug gesehen hatte; und die weiteste, ehrgeizigste Reise hatte sie nach Französisch-Polynesien geführt, wo Amelias Flugzeug mutmaßlich abgestürzt war. Andrew hatte mitkommen wollen, aber Kate war es gelungen, ihm dieses Vorhaben auszureden, mit dem Argument, es handele sich um eine Pilgerreise, ausschließlich für die Harris-Schwestern bestimmt.
Sie waren mit einem gecharterten Schiff durch das glasklare, türkisfarbene Wasser der Lagune gefahren. Geheimnisvoll und gespenstisch ragten die Atolle ringsum auf, ein Bett aus Korallen und Felsgestein, schimmernd unter der Oberfläche. Das Wasser war so klar, dass sie weit in die Tiefe blicken konnten. Sie sahen Fische, die um die Riffe schwammen, und riesige Muscheln; sie hatten jeden Moment erwartet, Amelias Flugzeug auf dem Meeresgrund zu entdecken.
»Es ist schön hier«, hatte Willa gesagt.
»Ich weiß«, hatte Kate erwidert. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie schmerzlich sie den Gedanken an die Flugpionierin empfand, die ihrem Traum gefolgt und in den Südpazifik aufgebrochen war, nur um ihr aufregendes Leben in diesem Paradies zu beenden.
Der Skipper war ein Einheimischer gewesen, geboren in Französisch-Polynesien. Er hatte eine Rundfahrt mit ihnen gemacht, ein Ort magischer als der andere, bis die Sonne unterging und der Himmel entflammte – Purpur, Rot, Rosa – Farben, wie sie Willa nie zuvor in der Natur oder auf der Leinwand eines Malers gesehen hatte.
»Das muss ich malen!«, hatte sie ausgerufen.
»Überlassen Sie mir dann das Bild?«, hatte der Skipper gefragt.
»Sie wollen ein Bild von mir?« Willa war siebzehn, schön, sich ihrer Wirkung auf Männer kaum bewusst. Kate hatte ein schützendes Auge auf sie, belustigt über Willas Naivität.
»Natürlich. Versprochen?« Der Skipper hatte am Steuer gestanden, ein unbekümmertes Lachen auf seinem gebräunten Gesicht. »Und wenn es fertig ist, schicken Sie es mir zu, in die Marina.«
»Kein Problem, Sie müssen mir nur Ihren Namen sagen.«
»Hervé Tourneau«, hatte der Mann mit einem französischen Akzent geantwortet. »An Bord der Yacht
Chrysalis,
eh? Das kommt schon an, keine Bange …«
Willa hatte gelacht, erfreut und geschmeichelt; Kate hatte sich stumm gegen die Reling gelehnt und zugeschaut, wie sich die Sonne in einzelne Flammen aufteilte, lodernde Scheite über dem Pazifik, eine Feuerspur, die bis zu einem endlosen Horizont führte; sie liebte ihre Schwester, war dankbar für ihre Zweisamkeit.
Kate blickte über die Heidelandschaft hinaus, auf das Seegras, das im Wind wehte, die Apfelbäume, die sich dunkel gegen den schiefergrauen Himmel abzeichneten, den hohen weißen Leuchtturm, ein Leuchtfeuer selbst bei dem trüben Tageslicht im November. Sie lauschte dem Rhythmus der Wellen, die gegen das Ufer brandeten.
Als sie sich dem Leuchtturm näherte, sah sie, dass eine Kette quer über die Schotterstraße gespannt war, und dahinter zwei Saumpfade: Der eine führte nach rechts, der andere nach links. Kate zögerte, unsicher, welchen Weg sie einschlagen sollte. Bonnie lief geduckt voraus; Gras und Seetang, vom Meer heraufgeweht, verfingen sich in ihrem Bauchfell. Kate rief sie herbei, entfernte Dorngestrüpp aus ihrem Fell, hielt sie einen Moment Trost suchend im Arm.
»Ach, Bonnie. Braver Hund.«
Bonnie leckte ihr über das Gesicht, und Kate entdeckte weißen Staub auf dem schwarzen Fell des Hundes. Allem Anschein nach kein Sand, sondern eher von einer Konsistenz wie Mörtel oder Kalk. Als sie hinunterblickte, sah sie, dass der Boden – vor allem der Weg, der nach rechts abzweigte – damit bedeckt war.
Vielleicht irgendein Material, das zur Ausbesserung des Leuchtturms benutzt wurde. Sie blickte hoch. Das Bauwerk, eine massige und robuste Konstruktion aus weißen Mauersteinen und Mörtel, sah aus, als konnte es den stärksten Stürmen trotzen. Ob das Kalkstein war? Sie wusste, dass Kalk nicht gut für Hunde war, und tat ihr Bestes, um den Staub abzuwischen.
Dann nahm sie Bonnie wieder an die Leine und zog sie in die entgegengesetzte Richtung, weg vom Leuchtturm. Während
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