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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Kindermädchen.«
    Ein sanftes Lächeln glomm in ihren Augen auf, dann umspielte es ihren Mund. Sie sah erheitert aus. »Sie ist noch nicht vergeben?«, fragte sie, den Kopf zur Seite geneigt.
    »Nein.«
    »Ich habe mir schon einmal Ärger eingehandelt, weil ich in diesem Punkt um den heißen Brei herumgeredet habe. Nein – ich bin nicht wegen der Stelle hier. Mein Besuch ist persönlich, ich bin eine … Bekannte von John.«
    Der Richter hatte ihr Zögern bemerkt, bevor sie das Wort »Bekannte« aussprach, als sei ihr so schnell keine bessere Bezeichnung eingefallen. Er billigte ihre Wahl.
    »Ich werde nachsehen, ob er da ist. Wen darf ich melden?«
    »Kate Harris«, sagte sie.
    »Aha.« Er musste so tun, als hätte er nicht die geringste Ahnung, wer sie war, obwohl er es längst erraten hatte.
    Langsam stieg der Richter die Treppe hinauf, in der Hoffnung, dass John ihre Stimme gehört hatte und von allein herunterkommen würde. Aber dem war nicht so. Im Flur war es dunkel und still. Der Richter ging zu Johns Zimmer.
    »John? Besuch für dich«, rief er durch die geschlossene Tür.
    Keine Antwort. Ein leises, dann ein lauteres Klopfen.
    »Kate Harris ist hier.«
    Kein Muckser.
    »Für den Fall, dass du mich nicht gehört hast. KATE HARRIS !«
    Der Richter stand wie angewurzelt im Flur. Er hatte das Zimmer seines Sohnes nicht mehr unaufgefordert betreten, seit John acht Jahre alt gewesen war und wegen eines verpfuschten wissenschaftlichen Experiments einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte. Damit wollte er jetzt gar nicht erst wieder anfangen.
    Brainer, der seinem Herrchen Gesellschaft leistete, fiepte leise und beschnüffelte den Spalt unter der Tür. Der Richter schüttelte den Kopf – John war nicht gerade ein Meister der Kunst, Frauenherzen zu entflammen, und der Richter fand, Kate Harris sei die geeignete Person, um damit zu beginnen.
    Aber wenn man den Kindern heutzutage etwas beibringen wollte, stieß man auf taube Ohren. Manchmal kam er sich wie Maeve vor, die ihren vier Söhnen Matthäus, Markus, Lukas und Johannes Predigten hielt. Sie hörten auch nie zu.
    »Tut mir Leid, Miss Harris«, sagte er, eine Hand am Treppengeländer, als er die Stufen hinabstieg. In der Diele angekommen, schenkte er ihr ein halbherziges Lächeln. »Mein Sohn ist anderweitig beschäftigt.«
    »Oh.« Sie klang enttäuscht. »Würden Sie ihm bitte ausrichten, dass ich da war?«
    Beim Klang ihrer Stimme ließ Brainer – der sie dank seiner ausgeprägten sensorischen Wahrnehmungsfähigkeit erkannt hatte – ein freudiges Bellen los.
    »Ist das Brainer?«, fragte sie.
    »Ebender.«
    »Bitte grüßen Sie ihn von mir – und von Bonnie. Und auch Maggie und Teddy. Und Maeve. Ich habe einen Brief für Maggie …«
    »Schön.« Der Richter reichte ihr zum Abschied die Hand, nahm den Brief entgegen und legte ihn auf den Tisch in der Diele, wo Maggie ihn gleich sehen würde. »Wo kann John Sie erreichen?«
    »Im East Wind Inn. Meinem zweiten Zuhause.«
    Der Richter blickte ihr nach, als sie die Treppenstufen hinab zu ihrem Auto ging – offensichtlich ein Leihwagen; sein Juristenverstand war wie eine stählerne Falle, die nur teilweise eingerostet war; er hatte eine Fülle interessanter Fakten darin gespeichert, zum Beispiel was Leihwagen mit zahlreichen Aufklebern an der Stoßstange und Nummernschilder betraf, die mit den Anfangsbuchstaben » CJ « begannen.
    Sie winkte ihm zu, als sie rückwärts die Einfahrt hinunterfuhr. Der Richter winkte zurück.
    Während seiner Jahre auf dem Richterstuhl waren ihm Menschen in allen Lebenslagen untergekommen. Er hatte gelernt, die offensichtlichen und unterschwelligen Anzeichen der Verzweiflung zu erkennen, der Trauer, des Kummers und … der Hoffnung: Das war das Wort, das ihm spontan einfiel, wenn er in die schönen, ungewöhnlichen, graublauen Augen von Kate Harris sah.
    Das Mädel strahlte aus jeder Pore Hoffnung aus.
    Und sie war gekommen, um seinen Sohn zu besuchen.
    »Du hast dir einen verdammt unpassenden Nachmittag ausgesucht, um Schlaf nachzuholen«, schimpfte er, den Blick zur Decke gerichtet.
    Der Richter war an Leute gewöhnt, die gerne ein Nickerchen machten. Maeve beispielsweise, die den ganzen Tag verschlafen würde, wenn er sie ließe. Er selbst genoss es ebenfalls, die Krawatte zu lockern und die Füße hin und wieder für eine Stunde hochzulegen. Aber sein Sohn – das stand auf einem völlig anderen Blatt.
    John konnte keine Minute stillsitzen. Ständig hatte er

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