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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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der Tränen‹. Und irische Anwälte waren in ihren Augen verkappte Dichter, die nicht vom Gerichtssaal loskamen. Das behauptete sie auch von dir.« John hob den Blick, sah seinen Vater an.
    Der Richter nickte; seine Kehle war bei der Erinnerung wie zugeschnürt, und so leerte er schweigend sein Glas. Er hörte noch heute Leilas Stimme, klangvoll und rauchig, die von Herz, Seele und ungezählten Zigaretten zeugte …
    »Das würde sie jetzt vermutlich auch von mir behaupten«, fügte ihr Sohn hinzu.
    »Mit Sicherheit.«
    »Sie würde sagen, dass ich einem Schurken helfe, mit einem Mord davonzukommen.«
    »Aber das tust du nicht, John. Merrill befindet sich im Todestrakt. Sollten deine Bemühungen erfolgreich sein, kann er bestenfalls hoffen, dass die Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt wird. Du und der gute Doktor werdet schon dafür sorgen. Wie immer der Prozess auch ausgehen mag, Merrill ist ein für alle Mal weg vom Fenster.«
    »Er hat einen Nachahmungstäter gefunden, den Mörder von Amanda Martin.«
    »Ich weiß.«
    »Und Willa Harris wird immer noch vermisst.«
    »Das ist mir ebenfalls bekannt. Und noch etwas …«
    »Ja?«
    »Du solltest diese Alkoholgeschichte von den irischen Dichtern und empfindsamen Anwälten nicht romantisch verbrämen. Die Männer haben getrunken, weil sie es so wollten – unsere kalte, unerbittliche Welt war nur ein bequemer Vorwand. Sie haben damit mehr Schaden in ihren Familien angerichtet, als du dir jemals vorstellen kannst.«
    »Klingt, als wüsstest du, wovon du redest.«
    Der Richter nickte ernst. »So ist es.«
    »Aha.« John stellte sein Glas ab, ohne es zu leeren, ging zum Fenster und blickte hinaus. »Was soll ich tun, Dad?«
    »Deine Arbeit, Johnny. Einen Fuß vor den anderen setzen und das Mandat behalten, im Sinne von James Madison, dessen Wirken maßgeblich zur Entwicklung unserer Verfassung beitrug. Deinen Mandanten nach bestem Wissen und Gewissen vertreten. Dich nach dem Leitsatz ›Prinzip geht vor Persönlichkeit‹ richten …«
    »Wo hast du denn das gehört?«
    »Bei den Anonymen Alkoholikern.«
    »Woher weißt du, was bei den A. A. geredet wird?«
    Der Richter zuckte die Schultern, und sein Lächeln schwand. »Es ist sehr lange her, aber einer dieser irischen Anwälte, die angetrunken im Gerichtsgebäude erschienen, war dein Vater. Mir ging die Arbeit genauso an die Nieren, Johnny. Ich habe oft zu tief ins Glas geschaut, und deshalb hat mich deine Mutter zu einigen Treffen geschleift.«
    »Das wusste ich gar nicht.«
    »Nun, diese Phase dauerte zum Glück nicht lange. Ich bekam mein Leben wieder in den Griff. Ich sah, was ich deiner Mutter damit antat … und ich hatte selbst miterlebt, wie Anwälte im Suff ihre eigenen Kinder misshandelten. Jimmy Brady stand in den Verhandlungen, bei denen ich den Vorsitz als Richter führte, genauso oft vor mir wie jeder andere Jugendliche in unserer Stadt. Ich lernte jedenfalls, Recht und Gesetz über die persönlichen Gefühle gegenüber Mandanten, Opfern und Angehörigen zu stellen.«
    »Schwer in die Praxis umzusetzen.«
    »Ja.« Der Richter blickte auf die Justitia hinunter; ein Star thronte auf ihrem Haupt, Schneefinken pickten die Körner in den Waagschalen auf. »Aber lebenswichtig.«
    »Stimmt.« John blickte auf seine Uhr – vielleicht überlegte er, ob ihm genug Zeit blieb, zum zweiten Mal an diesem Tag ins Winterham Prison zu fahren, zu dem Treffen mit seinem Mandanten und dem Psychiater.
    Brainer, auf Zuwendung erpicht, lief zwischen Vater und Sohn hin und her. Der Richter sah, wie John den Kopf des treuen Hundes kraulte und seine Finger sich in den Zotteln am Hals verfingen. John, in Gedanken versunken, schien nichts zu bemerken. Erst als er sich durch die verfilzten Stellen vorarbeitete und einen Dorn und etliche Zweige herauszog, schüttelte er den Kopf.
    »Der Hund braucht ein Bad.« Verdutzt runzelte er die Stirn, als er eine Klette entfernte.
    Der Richter ließ die Bemerkung im Raum stehen. John sah zum Fenster hinüber, als sei ihm gerade ein Licht aufgegangen, als stünde Kate Harris höchstpersönlich auf der Veranda vor dem Haus.
     
    Eine der charakteristischen Eigenschaften eines guten Strafverteidigers war die Fähigkeit, Fragen mit der Präzision eines Chirurgen zu stellen, der mit dem Skalpell umzugehen verstand. Für Letzteres galt, den Eingriff so schonend wie möglich durchzuführen, um das Leben seines Patienten nicht unnötig zu gefährden. Genauso musste sich

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