Die geheime Stunde
Gedanken an seine Frau war seine Kehle wie zugeschnürt.
Wieder ein Vorher-Nachher. Vor dem Unfall, nach dem Unfall. Wie beschrieb man am besten den Augenblick, wenn das Leben zerbrach, so dass nur noch ein Scherbenhaufen zurückblieb? Zu hektisch, um weiter darüber nachzudenken, durchquerte John im Eilschritt den moderigen Dachboden, spähte in den alten Garderobenschrank, hinter die Zederntruhe, in den ledernen Überseekoffer von Theresas Großmutter.
Vor Erleichterung darüber, dass er seine Tochter nicht ermordet vorgefunden hatte, vermischt mit der Angst, sie weder tot noch lebendig zu finden, stieß er einen so unmenschlichen Laut aus, dass er die Fledermäuse im Gebälk aufschreckte, was zur Folge hatte, dass sie seinen Kopf umschwirrten. Sie umzingelten ihn wie blutrünstige, gespenstische Kreaturen der Finsternis, zerkratzen ihm Ohren und Gesicht mit etwas grauenhaft Scharfem – Klauen? Zähne?
John überlegte nicht lange. Er rannte die Treppe hinunter, quetschte sich durch die Tür und schlug sie hinter sich zu. Der einen oder anderen Fledermaus gelang es, dem Dachboden zu entkommen, sich in dem hellen, weitläufigen ersten Stock des Kolonialstil-Hauses zu verflüchtigen.
Er musste noch den Keller durchsuchen, seine Werkstatt, die Waschküche. Danach die Garage, den Schuppen im Garten, das Bootshaus. Doch die Zeit drängte; sie verging wie im Flug, und er wusste bereits, was bei der Suche herauskommen würde.
Jetzt ist es so weit,
dachte er, während er zum Telefon in seinem Schlafzimmer ging.
Jetzt ist der Augenblick gekommen. Jetzt bekommst du die Quittung für deine berufliche Laufbahn, die Quittung für die Mandanten, die du verteidigst.
Heißt das, dass die Leute Recht haben – dass du ein Handlanger des Teufels bist, Mitwisser eines Verbrechens, dass du die Mörder einfach schmoren lassen solltest? Ist das der springende Punkt?
Meine Tochter wird vermisst, genau wie die Töchter der anderen Familien.
Jetzt weiß ich, wie das ist,
dachte er und begann zu wählen.
Jetzt bekomme ich am eigenen Leib zu spüren, was sie durchgemacht haben.
John setzte sich aufs Bett. Er nahm den Hörer in die Hand. Er fühlte sich glitschig an. Mit zitternden Fingern drückte er die Zahlentasten, verwählte sich. Er versuchte es noch einmal, hatte gerade die 91 des Notrufs 911 gewählt, als er die Haustür hörte. Brainer bellte.
»Er ist zu Hause! Da steht sein Aktenkoffer – Daddy!«, rief Maggie quietschvergnügt.
»Maggie!«, schrie er.
Als er die Treppe hinunterrannte, flog ihm seine Tochter entgegen. Sie klammerte sich mit aller Kraft an ihn, als ginge es um ihr Leben, als gelte es, den Olympiasieg im Umarmen zu erringen. Normalerweise reichte ein Griff, um sich aus ihrer Umklammerung zu lösen, doch nun hielt John sie noch fester umschlungen als sie ihn. Brainer rempelte sie an, versuchte sich zwischen die beiden zu drängen, was ihm jedoch nicht gelang.
»Wir hatten Sie nicht so früh zu Hause erwartet«, sagte Kate Harris.
John hob den Blick, starrte sie über Maggies Kopf hinweg an. Kate lächelte. Oder zumindest bemühte sie sich. Ihre Mundwinkel verzogen sich nach oben, zauberten Grübchen in ihre glatten, sommersprossigen Wangen. Doch ihre Flussstein-Augen blieben traurig, als wäre seit langer, langer Zeit kein Lächeln mehr zu ihnen vorgedrungen. John war nicht in Stimmung für eine Analyse dieses Lächelns, deshalb schob er den Gedanken beiseite und löste sich behutsam von seiner Tochter.
»Warum ist Maggie nicht in der Schule?«
»Sie wollte nicht«, entgegnete Kate Harris.
»Sie muss zur Schule. Das sollten Sie eigentlich wissen.«
»Ich?«
»Sie sind schließlich erwachsen.«
»Hmmm«, erwiderte sie, als würde sie ernsthaft darüber nachdenken. »Ja, Sie haben Recht.«
»Wo waren Sie?«
»Wir – Maggie – brauchten eine Ablenkung; sie hat sich Sorgen um Sie gemacht«, erklärte sie mit ihrem leichten Südstaaten-Akzent.
»Und wie«, bestätigte Maggie.
»Mags, lässt du uns bitte einen Moment allein? Geh raus auf die Sonnenveranda. Ich komme gleich nach, ja?«
»Dad, sei nicht sauer.« Maggie sah niedergeschlagen aus. Sie war in den vergangenen beiden Jahren so viele Male niedergeschlagen gewesen, dass der Anblick automatisch einen Schuldkomplex in John auslöste. Er tat, was er immer zu tun pflegte – versprach ihr etwas, um sie aufzuheitern.
»Ich spiele eine Partie Schach mit dir«, sagte er, ungeachtet der Arbeit, die im Büro auf ihn wartete. »Stell schon mal
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