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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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orangefarbenen Overall, an dem hölzernen Konferenztisch, ohne Fesseln. Er hielt eine Bibel in der Hand, machte keinen Schritt ohne sie. Eine frei schwenkbare Kamera, Teil des elektronischen Überwachungssystems, ermöglichte den Wärtern eine lückenlose Kontrolle.
    »Was ist mit Ihrem Kopf passiert?«
    »Nur eine Beule.« John öffnete den Aktenkoffer, holte seine Unterlagen heraus. Hielt er mit der Wahrheit hinter dem Berg, um Greg kein schlechtes Gewissen zu machen, weil er die unmittelbare Ursache seiner Verletzung war? Oder lag es an der primitiven Angst, eine zu enge Beziehung zu dem Mörder zu entwickeln, ihn in die Einzelheiten seines häuslichen Lebens einzuweihen?
    »Gott schütze Sie, John«, erwiderte Greg ruhig, die Fingerspitzen in Gebetshaltung zusammengelegt, den Kopf gebeugt. »Ich werde für Sie beten. Damit Ihnen niemals etwas Böses widerfährt.«
    »Danke, Greg«, sagte John mit Nachdruck, um das Thema zu beenden. Zur Religion zu finden war im Gefängnis gang und gäbe; im Laufe der Jahre hatte John gelernt, diesem Sinneswandel nicht allzu viel Gewicht beizumessen. »Also – kommen wir zu Sache …«
    John skizzierte mit knappen Worten den Schriftsatz an das Gericht und die neueste Eingabe, mit der er zu bewirken hoffte, dass Greg in eine Zelle mit mehr Privatsphäre verlegt wurde.
    »Es ist furchtbar.« Gregs Stimme versagte. »Die Wärter spotten und sticheln, wenn ich zur Toilette gehe. Sie machen sich lustig über mich.«
    »Ich weiß. Es tut mir Leid, aber ich tue mein Bestes.«
    »Wissen Sie, John … ich habe keine Angst vor dem Sterben. Gott ist bei mir; ich weiß, dass der Allmächtige Erbarmen haben und mich nicht in die Hölle schicken wird. Ich
weiß
es, John. Klingt es verrückt, wenn ich sage, dass ich mir dessen absolut sicher bin?«
    »Ich weiß, dass Sie daran glauben«, erwiderte John ungerührt. Er blickte in die verhangenen braunen Augen seines Mandanten. Der Mann war gewalttätig, ein Triebtäter. Dieser Trieb war Teil seiner Persönlichkeit, genau wie die braunen Augen und das lockige Haar. Merrill hatte sieben Morde an Frauen gestanden und viele mehr verletzt, verfolgt und zu Tode geängstigt.
    »Das hier ist meine Hölle«,
flüsterte Greg, seine Stimme klang wie ein Zischen. »Dieses Gefängnis – mit seinen Insassen, die zum Abschaum der Menschheit gehören. Wenigstens habe ich ein Geständnis abgelegt. Diese Männer drangsalieren mich mit unglaublichem Hass, John. Ich
sehne
mich geradezu nach dem Tod; es ist das
Leben
, das ich unerträglich finde.«
    John nickte. Greg redete manchmal so, aber er kämpfte mit allen Mitteln um sein Recht auf Leben. Und John hatte einen Eid geschworen, ihm dabei zu helfen.
    John holte einen weiteren Stoß Unterlagen heraus. »Ich habe Dr. Beckwiths Berichte gelesen.«
    »Wirklich?« Gregs Augen leuchteten auf.
    »Ja.« John hatte Beckwiths Dienste schon öfter in Anspruch genommen – manchmal, damit er als Zeuge vor Gericht auftrat, oder auch nur, um einen Mandanten zu untersuchen. Seine Tätigkeit umfasste die einfachen Fälle, beispielsweise in einem Prozess, bei dem er mit seiner unschätzbar wertvollen Expertenmeinung die Verteidigungsstrategie der mangelhaften medikamentösen Einstellung untermauerte (»Die unzureichende Medikation führte zu einer emotionalen Überbelastung meines Patienten und somit zum Diebstahl …«), sowie Gutachten über die Zurechnungs- und damit Schuldfähigkeit eines Immobilienanwalts, der seine untreue Ehefrau umgebracht hatte.
    »Glaubt er, dass wir eine Chance haben, John?«
    »Möglich. Er möchte sich noch einmal mit Ihnen unterhalten.« John warf einen Blick in die Akte. Beckwith hatte einmal in der Woche ein Gespräch mit Merrill geführt, von Anfang an, seit er zu Johns Verteidigungsmannschaft gehörte.
    »Ich mag ihn, John. Er versteht mich … er sagt, meine Paraphylie sei wie ein Krebsgeschwür im Gehirn. Können die Leute etwas dafür, wenn sie an Brustkrebs oder einem Hirntumor erkranken? Nein, können sie nicht. Dr. Beckwith weiß, bei mir ist es genauso …«
    John nickte, beobachtete die Augen seines Mandanten. Merrill ließ nicht die geringsten Empfindungen erkennen – selbst jetzt, während seine Stimme lauter und leiser wurde, zeigte sich keinerlei Regung in seinem Gesicht. John versuchte, sein persönliches Engagement und seine Neugierde in Grenzen zu halten. Er war ein bezahlter Helfer; seine Aufgabe bestand darin, juristische Lösungen für juristische Probleme zu

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