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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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hatten bisher ein Gespräch mit seinem Mandanten geführt, das diagnostisch derart in die Tiefe ging, und Merrill schien zufrieden, es dabei bewenden zu lassen.
    »Ich verleihe ihnen innere Stärke. Ich gebe ihnen eine letzte Chance. Ich gebe ihnen Hoffnung: Bis die Flut Mund und Nase erreicht, können sie keineswegs sicher sein, dass sie sterben werden. Das Mädchen, das überlebte … sie hatte Hoffnung, bis sie ertrank, und dann wurde sie ins Leben zurückgeholt. Null Hirnfunktion – ein Zombie – aber lebendig. Es
gibt
also Hoffnung! Das ist ein Geschenk, John! Ich weiß, wovon ich rede, weil auch ich sie habe, hier. Ich befinde mich in der Todeszelle, aber es besteht Hoffnung, so lange, bis sie mich festschnallen. Menschen brauchen Hoffnung, John – das entspricht der menschlichen Natur.«
    »Wo haben Sie …?«, begann John, aber er verstummte, als seine Schläfe zu pochen begann.
    »Dr. Beckwith meint, ich hätte einen Allmachtskomplex.« Greg schüttelte reumütig den Kopf. »Ich würde mir einbilden, ich sei wie Gott: Ich gebe, also kann ich auch nehmen. Oder Gnade walten lassen, wenn ich will. Wie bei diesem Mädchen, dem ich die letzten Minuten schenkte, John. Und glauben Sie mir, es war ein Geschenk. Ihr gefielen die Dinge, die ich mit ihr tat. Ich tötete ihren Verstand, ließ aber ihren Körper am Leben.«
    »Die Flut war mächtiger als Sie«, erinnerte John ihn. »Sie haben sich an jenem Tag in der Zeit verschätzt.« Er wusste, dass Greg stets die letzten Stunden mit seinen Opfern verbrachte und sie ihrem Schicksal überließ, just bevor sich die Flut über die Wellenbrecher ergoss und sie ertranken.
    Offenbar wollte er keine nassen Füße bekommen.
    »Ich töte in diesen Mädchen nur das, was ich in mir selbst am meisten hasse … Dr. Beckwith hat das begriffen«, fuhr Greg fort, als habe er Johns Worte nicht gehört; seine bebenden Nasenflügel waren das einzige äußere Anzeichen, das eine Gemütsbewegung verriet.
    »Ich glaube nicht, dass Dr. Beckwith bereits zu einem Ergebnis gelangt ist, Greg«, erklärte John gleichmütig. »Das hat er auch nicht behauptet, oder?«
    Greg lachte betrübt und schüttelte den Kopf. »Das wäre ja auch kontraproduktiv. Wenn ich wüsste, in welche Richtung Dr. Beckwith mit seinem Gutachten tendiert, könnte der Verdacht entstehen, dass ich ihn mit meinen Gedanken und Symptomen hinters Licht zu führen versuche. Nein, ich weiß es einfach.«
    »Und woher?«
    »Das ist kein großes Geheimnis, John. Ich bin schließlich Mitglied von MENSA . Meine Intuition ist ausgeprägter, als Laien sich vorstellen können. Dazu kommt, dass ich wahrscheinlich mehr über Fälle wie den meinen gelesen habe als jeder Psychiater, der unter den Lebenden weilt. Ich erzähle Ihnen nur, wie ich mich selbst einschätzen würde, wenn ich Arzt wäre. Interpretieren Sie nicht zu viel hinein.« Er beugte sich vor, um seine Bibel wieder in die Hand zu nehmen. »Der Herr lenkt mein Schiff; ich rudere nur. Ich bin bereit, mit jedem zu reden, den Sie zu mir schicken; ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen für den ausgezeichneten juristischen Beistand bin, John. Obwohl Sie nicht über Dinge reden sollten, von denen Sie keine Ahnung haben. Sie behaupten einfach, dass ich mich in der Zeit verschätzt habe, und das missfällt mir. Okay?«
    »Natürlich, Greg.«
    Merrill nickte zufrieden. »Trotzdem, vielen Dank, dass Sie mir den Kontakt zu Dr. Beckwith ermöglicht haben. War sonst noch was?«
    »Ja.«
    John nahm den Aktenorder mit Gregs Aussage aus seinem Aktenkoffer und legte ihn auf den Tisch, zwischen ihnen. Dann griff er in seine Tasche, berührte das Foto von Willa Harris. Er stellte sich Kates Gesicht vor, die Tränen auf ihren sommersprossigen Wangen, und schloss die Augen. Er befand sich in einem inneren Konflikt: Er fühlte sich hin- und hergerissen zwischen dem Bestreben, seinem Mandanten nach bestem Wissen und Gewissen zu dienen, und … was? Der Schwester von Willa Harris bei der Suche nach Antworten zu helfen? Seine eigene Neugierde zu befriedigen? Als er die Augen öffnete, sah er, dass Greg Merrills Blick auf ihm ruhte.
    »Sagen Sie mir eins, Greg.«
    »Alles, was Sie wollen, John.«
    »Fairhaven, Massachusetts«, erwiderte John, Gregs Reaktion beobachtend.
    Ein flüchtiges Lächeln huschte über Gregs schmale Lippen. Grübchen bildeten sich in seinen Wangen, aber seine Augen blieben ausdruckslos, ohne Gefühl. »Ach ja. Dornröschen.«
    »Erzählen Sie mir

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