Die geheime Stunde
hielt nicht viel von der Norm, Eltern oder Großeltern auf die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu verpflichten. Notlügen waren nicht so einfach in seiner Position gewesen, als er diese beiden Rollen innehatte. Heute machten Eltern gleichwohl ein Riesengetue um das Thema »Offenheit«. Nach seinem Dafürhalten sollte man das schleunigst vergessen: Das Wohl der Kinder stand für ihn an erster Stelle, damit sie sich ungestört auf schulische Glanzleistungen konzentrieren und die Sorgen den Älteren überlassen konnten.
»Gramps?«, sagte Maggie mit Nachdruck und drückte den zweiten Brownie so fest zusammen, dass er zwischen ihren Fingern zerkrümelte. »Wo auswärts?«
Der Richter holte tief Luft. Was versetzte sie an dem Gedanken derart in Panik? War es die Vorstellung, ihr Vater könnte bei einem Autounfall ums Leben kommen, wie ihre Mutter? Oder hatte sie Angst, wie John damals im gleichen Alter, dass ihr Vater bei einem Besuch seines Mandanten im Hochsicherheitsgefängnis hinter den schweren, verstärkten, unüberwindlichen Stahltüren auf Nimmerwiedersehen verschwinden könnte?
»Also, was hast du in deiner Büchertasche, junge Dame?«, fragte er streng. »Höchste Zeit, mit den Hausaufgaben anzufangen, wenn du in Yale studieren möchtest. Yale nimmt nicht jeden, weißt du. Du kennst doch das Sprichwort: Ohne Fleiß kein Preis.«
»Sag mir, wo Dad ist, Gramps!« Maggies Blick war vor Verzweiflung verschleiert, ihre Miene verzerrt. Der Richter kannte die Symptome. Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Da er bei John ähnliche Ängste erlebt hatte, der paradoxerweise am besten damit umgehen konnte, wenn man mit der ungeschminkten Wahrheit herausrückte – welcher Art auch immer –, beschloss der Richter entgegen seiner innersten Überzeugung, die Karten auf den Tisch zu legen.
»Er ist ins Gefängnis gefahren. Zu Merrill.«
Maggie nickte; der Kloß im Hals löste sich prompt auf – zur Verwunderung des Richters.
»Ist das in Ordnung für dich?«, fragte er.
Maggie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich habe Angst, wenn er Auto fährt, und Merrill ist ein Schwerverbrecher, heißt es, aber ich möchte trotzdem wissen, wo Daddy steckt. Egal was ist.«
»Hmmm«, erwiderte der Richter nachdenklich. »Bevor ich Richter wurde, war ich Strafverteidiger, genau wie dein Vater. Sag ihm ja nicht, dass ich dir das erzählt habe, aber damals rastete er immer völlig aus, wenn ich ins Gefängnis fuhr. Vermutlich fürchtete er, die Tore könnten sich hinter mir schließen und ich wäre mit all den Mördern eingesperrt.«
»Das hat Dad mir erklärt«, entgegnete Maggie, während sie ihren Brownie aß. »Damit ich keine Angst haben muss. Dass er eingesperrt wird, kann ihm nicht passieren, weil die Gefängniswärter ständig auf ihn aufpassen. Und Merrill wird vorher nach Waffen durchsucht, damit er Dad nicht verletzen kann.«
»Was für einen klugen Vater du hast! Er scheint aus meinen Fehlern gelernt zu haben.«
»Wie kommt es, dass du Richter geworden bist, wo du doch zuerst Rechtsanwalt warst?«
»Das lag an meinen Glanzleistungen vor Gericht und meinem brillanten juristischen Verstand.«
»Ein Richter muss die Verbrecher nicht mehr im Gefängnis besuchen, oder?«
»Stimmt. Wenn er das täte, würde man ihn sogar seines Amtes entheben.«
»Aha.« Maggie kaute versonnen.
Der Richter lehnte sich zurück und betrachtete sie. Seine Enkelin hatte ein nachdenkliches Gesicht, intelligente Augen. Sie würde eines Tages einen guten Juristen abgeben. Teddy auch. Aber er hoffte, dass sich der Junge auf Körperschaftsrecht oder Bauplanung spezialisieren würde.
Der Richter dachte an Greg Merrill. An den Serienmörder mit dem kindlichen Gesicht, der sanften Stimme und dem bescheidenen Wesen, der auf dem College gewesen war. Die bestialischen Morde, die er begangen hatten, kennzeichneten ihn als Ungeheuer in Menschengestalt – eine andere Beschreibung würde ihm nicht gerecht.
Johnny war jetzt bei ihm. Der Richter warf einen Blick auf seine goldene Uhr: in ebendiesem Augenblick, während die Zeit nur langsam verging. Warum empfand er ein solches Unbehagen bei dem Gedanken, ausgerechnet er, der ein Leben lang Fälle verhandelt hatte, bei denen es um Kapitalverbrechen ging?
Sein Blick fiel auf das unbekümmerte Gesicht seiner Enkelin, und der Richter versuchte sich ein Lächeln abzuringen. Wie viele gewalttätige Männer hatten ihr Vater und er im Laufe der Jahre, mit dem ganzen Gewicht und der
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