Die geheime Stunde
davon.«
»Das steht doch alles in Ihrer Akte. Ich habe es Ihnen bereits erzählt.«
»Ich möchte es noch einmal hören.« Und dann, als Gregs Lächeln schwand, fügte er in sanfterem Tonfall hinzu: »Bitte.«
»Ich bin ein empfindsamer Mensch, John.« Gregs Kinn bebte. »Ich mag es nicht, wenn Sie so grob mit mir umgehen.«
»Ich weiß. Tut mir Leid. Erzählen Sie es mir bitte noch einmal. Was sich in Fairhaven zugetragen hat.«
»In Ordnung.« Das Lächeln kehrte zurück, verzeihend, er berührte die Bibel wie einen Talisman. »Ich war unterwegs …«
Das hört sich an, als spräche er über eine ganz normale Geschäftsreise: ein Handlungsreisender, der in einer kleinen Ortschaft am Meer anhält, um zu Mittag zu essen,
dachte John.
»Ich musste mal. Ich fuhr auf einen Parkplatz, um meine Notdurft zu verrichten … er lag hinter einem Waschsalon, wenn mich nicht alles täuscht. In einer von diesen kleinen Einkaufsstraßen, wo es Gemischtwarenläden und Geschäfte gibt, die Grußkarten verkaufen. Das Haus des Mädchens befand sich ein Stück dahinter, auf der anderen Seite des Parkplatzes. Ich drehte zufällig den Kopf in die Richtung … und sah, wie das Licht in ihrem Schlafzimmer anging.«
Gregs Blick verschleierte sich. Er verfiel bisweilen in eine Art Dämmerzustand; John hatte einige dieser »Trancen« kommen und gehen sehen. Wenn er die Ereignisse schilderte – einen Mord oder wie er einer Frau aufgelauert hatte –, wurden seine Augen glasig und sein Mund trocken. In seiner Stimme schwang eine so grenzenlose Sehnsucht mit, als würde er die große Liebe seines Lebens beschreiben, die er vor langer Zeit verloren hatte.
»Warum? Warum ausgerechnet dieser Moment?«, fuhr Greg fort. »Ich meine, ich saß im Auto. Musste mich an einer Mauer erleichtern … wenn sie nur das Licht im Schlafzimmer nicht eingeschaltet oder es diesen Bruchteil von Sekunden nicht gegeben hätte, bevor sie die Vorhänge zuzog! Dünne weiße Gardinen, die nicht ganz schlossen. Ich lugte durch den Spalt.«
John hörte zu. Er kannte die Geschichte bereits, aber auch jetzt drohte sein Herz auszusetzen, wenn er daran dachte: Der Zeitpunkt der Tat schien von einer Laune des Schicksals abhängig – eine halbe Minute früher oder später, und Greg Merrill wäre einfach seiner Wege gegangen.
»Sie war hübsch. Dreizehn, ging auf die vierzehn zu, würde ich sagen. War sich ihrer selbst noch nicht bewusst. War sich der Macht noch nicht bewusst, die sie besaß … Ich überquerte den Parkplatz. Kletterte über den Staketenzaun – blieb mit meiner Jeans an einer rostigen Kante hängen. Marschierte schnurstracks durch ihren Garten … jemand hatte ein altes Ruderboot neben dem Haus abgestellt. Ich zog es rüber, kletterte hinauf und beobachtete sie durch den Spalt in der Gardine, bis sie zu Bett ging.«
»Hat jemand Sie gesehen? Auf frischer Tat ertappt?«, fragte John, die Hand auf Willas Foto.
»Nein, ich war wie der Nachtwind – schnell, sicher, unsichtbar. Trotzdem, ich wollte sie haben. Die Gedanken überschlugen sich … ich hatte sogar schon den Wellenbrecher ausgewählt. Den großen aus Felsen, in New Bedford. Sie wissen schon, welchen ich meine – direkt neben der Fähre nach Vineyard …«
»Ich erinnere mich.«
»Aber es sollte nicht sein.« Greg schüttelte den Kopf. Der verschleierte Blick war verschwunden, als er aus seinem tranceähnliche Zustand erwachte, wie das dritte, zurückrollende Lid eines Katzenauges. »Ihr Fenster war verriegelt, und ihr Vater war daheim, irgendwo im Haus. Ich konnte seine Stimme hören …«
»Das war der einzige Grund?«
»Was für einen anderen Grund sollte es gegeben haben?«
Johns Finger streiften das Foto, und er fragte sich, ob zu dem Gemischtwarenladen auch eine Tankstelle gehörte und ob Willa Harris Greg in die Quere gekommen und ein Opfer »zweiter Wahl« geworden war.
»Keine Ahnung, Greg. Sagen Sie es mir.«
Merrill schüttelte den Kopf. »Das war alles. Ich war nicht bereit, mich erwischen zu lassen … ich hatte keine Lust, mir eine Tracht Prügel von irgendeinem aufgebrachten Fischer einzuhandeln. So sollte meine Geschichte nicht enden …«
»Ich weiß; so endete sie ja auch nicht«, pflichtete John ihm bei. Dann sah er Greg unverhohlen in die Augen. »Wann war das, zu welcher Jahreszeit? Erinnern Sie sich?«
Greg schloss die Augen, schnupperte. »Frühjahr. Ich kann noch heute die Blumen in ihrem Garten riechen. Letztes
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