Die geheime Stunde
den Aktenkoffer und begann, seinen Schriftsatz durchzugehen. Doch immer wieder kam ihm Kate Harris in den Sinn, und was sie über ihre Schwester und ihren Mann erzählt hatte. Er hatte letzte Nacht kein Auge zugetan. Seine Gefühle waren nicht zur Ruhe gekommen – ein Schauer nach dem anderen jagte durch seinen Körper, als hätte er Fieber. Von zwei Menschen betrogen, die ihr nahe standen – wie war sie damit fertig geworden? Bei dem Gedanken an Theresa und Barkley erschauerte er abermals. Als er den Blick hob, sah er den Wärter grinsen.
»Hey, Counselor.« Carmody deutete auf Johns bandagierten Kopf. »Haben Sie sich das bei einer Schlägerei in der Kneipe geholt?«
»Wo sonst. Aber das ist noch gar nichts; Sie sollten mal den anderen sehen.« John atmete tief durch, um die Erinnerungen an Theresa zu vertreiben.
»Kann ich mir gut vorstellen.« Der Wärter feixte und ließ dabei seine fetten Knöchel knacken, einen nach dem anderen. Als er fertig war, gähnte er und bedeutete John vorzutreten. Rein äußerlich die Geduld in Person, hielt John still, als der Wärter ihm mit dem Metalldetektor an Armen und Beinen entlangfuhr. Innerlich brannte er darauf, dem Mistkerl einen Denkzettel zu verpassen: nicht nur, weil dieser es so offenkundig an Respekt fehlen ließ, sondern auch wegen der Dreistigkeit, mit der sich Carmody vorbeugte und Johns Kopfwunde in Augenschein nahm, ohne einen Hehl aus seiner Schadenfreude zu machen.
»Die haben Sie ganz schön in die Mangel genommen.«
»Die?
Wissen Sie etwas darüber?«
»Nein, Counselor, ich doch nicht.« Carmody hob abwehrend die Hände, heuchelte Unschuld.
»Das ist gut«, sagte John, schwer atmend. »Weil meine Kinder nämlich dabei waren. Sie verstehen? Sie hätten von dem Ziegelstein oder den Glasscherben verletzt werden können. Sie haben Gewalt in ihrem eigenem Zuhause erlebt.«
»Hey! Passen Sie auf, was Sie sagen – noch eine von diesen Unterstellungen und ich lasse Sie raus …«
»Mein Mandant hat ein Recht auf juristischen Beistand.«
»Und ich habe das Recht, hier für Ordnung zu sorgen. Also lassen Sie den Quatsch mit dem Ziegelstein und dem Fenster, kapiert?«
»Wer immer es auch war, er hätte meine Kinder verletzen können!« John interessierte es kaum, ob er einen Rauswurf riskierte. Bis zu diesem Augenblick, als er einem Menschen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, der den Steinwerfer vermutlich noch angefeuert hätte, war er sich der geballten Kraft seines eigenen Zorns nicht bewusst gewesen. Die Grundfesten seines Heimes waren schon einmal erschüttert worden, ein zweites Mal würde er nicht tatenlos zusehen. »Kapiert? Meine
Kinder.
Entschuldigen Sie also, wenn ich im Moment nicht gerade in Hochstimmung bin.«
»Ich will hier keinen Ärger – also Schwamm drüber. Sind Ihre Kinder in Ordnung?«
»Ja.«
»Das ist das Einzige, was zählt.«
»Richtig. Kann ich jetzt meinen Mandanten sehen?«
Carmody entriegelte die Tür, ließ John in den Todestrakt eintreten. Johns Herz klopfte zum Zerspringen; wegen Kate Harris, die an alte tödliche Wunden gerührt hatte, wegen Carmody – konnte er etwas mit dem Ziegelstein zu tun gehabt haben? Und weil es eine normale menschliche Reaktion beim Betreten des Todestraktes war.
Die Insassen waren in etwa zwei mal dreieinhalb Meter großen Zellen untergebracht, von denen jede eine Metallpritsche, einen Schreibtisch und eine Kombination aus Toilette und Waschbecken enthielt. Sie verbrachten zweiundzwanzig Stunden pro Tag in Einzelhaft; jeden Abend von achtzehn bis zwanzig Uhr durften sie sich im Gemeinschaftsraum aufhalten – ausschließlich in Gesellschaft der übrigen Todeskandidaten, nie mit anderen Strafgefangenen.
Merrill war in der »Todeszelle« untergebracht. An den Hinrichtungsraum angrenzend, befand sie sich gegenüber einem Schreibtisch, der ständig mit einem Wärter besetzt war und so keinerlei Privatsphäre zuließ. Der Wärter beobachtete Merrill auf Schritt und Tritt, gleich ob er sich das Gesicht wusch oder die Toilette benutzte. Jede Aktivität wurde akribisch vermerkt. Obwohl John in seinen Schriftsätzen die Unmenschlichkeit dieser Behandlung angeprangert hatte, blieb Merrill in der Todeszelle. Und er würde dort ausharren müssen, wie John wusste, bis ihm unter Umständen etwas noch Schlimmeres drohte.
»Hallo, John«, begrüßte ihn Merrills sanfte Stimme, als er das Besprechungszimmer betrat.
»Hallo, Greg.«
Merrill saß in seiner Gefängniskluft, einem
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