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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Frühjahr.«
    »Frühjahr … April vielleicht?«
    »Möglich. Weil es für sie noch kühl genug draußen war, um die Fenster geschlossen zu halten … die Familie besaß keine Klimaanlage, John. Lebte einfach, sparsam. Sie verstehen? Sie hätten das Ruderboot sehen sollen, auf dem ich stand. Uralt.«
    »Na gut.« John dachte an Willas Benzinquittung vom 6. April. Er legte die Unterlagen wieder in die Ordner zurück, dann verstaute er sie in seinem Aktenkoffer aus braunem Leder. Die Deckenbeleuchtung summte. Essensgerüche drangen in den geschlossenen Raum. Greg schob seinen Stuhl zurück; das Essen wurde ihm in die Zelle gebracht, drei Mahlzeiten am Tag, in einer Styropor-Warmhaltebox.
    »Ach, Greg, noch etwas«, sagte John beiläufig, obwohl sein Puls raste, als er nach dem Foto in seiner Tasche griff.
    »Zeit fürs Abendessen«, erwiderte Greg bedauernd, war bereits aufgestanden.
    »Ich weiß … nur noch eine letzte Frage.« Er hielt Willas Foto hoch. »Haben Sie diese Frau jemals gesehen?«
    Greg zögerte. John beobachtete angespannt seine Augen. Greg streckte die Hand aus, um sich das Foto genauer anzuschauen, aber aus irgendeinem Grund wollte John nicht, dass er es berührte. Er hätte nicht genau sagen können, warum, aber das Bild von Kates kummervollem Blick kam ihm in den Sinn. Er hielt das Foto fest, zog es unmerklich zurück.
    »Was ist, haben Sie?«, hakte er nach.
    Greg legte den Kopf schief. Sein ausdrucksloser Blick gab selten eine Gefühlsregung preis. Selbst wenn er in Fahrt war und eine Rolle spielte – seine Stimme pathetisch hob und senkte, die Schultern gekrümmt, den Kopf schüttelnd –, blieben seine Augen tot, wie die eines Hais. Doch in diesem Moment, als er das Foto mit der lächelnden Willa Harris betrachtete, hätte John schwören mögen, ein kurzes Aufflackern in ihnen zu entdecken.
    Mehr war es nicht: ein Aufblitzen, ein Hauch von Unruhe, als wäre soeben ein fantastischer Fisch direkt unter der Wasseroberfläche entlanggeschwommen. Ein leichte Bewegung, und dann nichts mehr. Das Meer lag wieder reglos da, und John fragte sich, ob er sich das Ganze nur eingebildet hatte.
    »Nein, John. Tut mir Leid.«
    John wartete. Er beobachtete Gregs Augen, hoffte, dass die Unruhe Wellen schlug.
    Nichts.
    »Ich habe sie noch nie gesehen«, sagte Greg aufgekratzt.
    Vom Geruch seiner nächsten Mahlzeit angelockt, drehte sich Greg Merrill um und ging. Er verließ den kleinen Raum, seine Bibel ehrfürchtig in der Hand haltend, und ließ den Anwalt mit dem Foto einer lächelnden jungen Frau zurück, während er in Begleitung eines Wärters den Gang entlangwatschelte.
    John stand auf, schickte sich zum Gehen an. Sein Kopf hatte an der Stelle, wo sich die Naht befand, zu hämmern begonnen. Er betrachtete Willas engelsgleiches Gesicht; ihr Verrat versetzte ihm einen Schock, was lächerlich war.
Wie konntest du nur?,
dachte er.
Wie konntest du deine Schwester nur so verletzen?

[home]
    7
    Z weieinhalb Tage vergingen; bis Donnerstag war Kate fünfmal am Haus der O’Rourkes vorbeigefahren. Sie konnte nicht anders. John O’Rourke war ihr letztes und einziges Bindeglied zu der Hoffnung, doch noch etwas über Willas Verbleib zu erfahren. Sie wusste, dass wenig Aussicht auf Erfolg bestand; er hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass sein Standeskodex ihm nicht gestattete, mit ihr über den Fall zu sprechen. Sie wusste auch, dass ihr Verhalten unannehmbar war, wenn sie sein Haus so oft auskundschaftete, kaum besser als das eines Kriminellen, der sich an sein Opfer heranpirscht. Sie hielt jedes Mal nach den Kindern Ausschau.
    Wie es ihnen wohl ging? Hatte John ein Kindermädchen gefunden, das alle mochten? War Brainer wieder im Gestrüpp herumgestreunt und mit einem verfilzten Fell nach Hause gekommen? Bildete sie sich das nur ein, oder hatte sich Bonnie verliebt?
    Jedes Mal, wenn Kate vorbeifuhr, drückte Bonnie nämlich ihre Nase am Fenster platt und rannte dann ans hintere Ende des Wagens – als wollte sie Brainers Haus so lange wie möglich im Blick behalten.
    »Reg dich ab, Bon«, rief Kate ihr über die Schulter zu. »Er scheint nicht da zu sein.«
    Offenbar war niemand da. Johns Wagen stand nie in der Auffahrt; im Garten war keine Spur von den Kindern zu entdecken. An beiden Abenden brannten dieselben Lichter, als wären sie mittels Zeitschaltuhr angegangen. Hatte sie John O’Rourke mit ihrem Anliegen zu der Überzeugung gebracht, dass es besser sei, mit der ganzen Familie die Stadt zu

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