Die geheime Stunde
dagesessen, zu den Sternen hinaufgeblickt und sich gefragt hatte, ob Willa sich ihretwegen nicht meldete, weil sie zu viel Angst vor Kates Zorn hatte, um nach Hause zu kommen.
Und sie dachte an all die Nächte voller Hass auf Andrew – in denen sie ihren Mann verachtet hatte, weil er Willa als Praktikantin eingestellt, sie zu Überstunden genötigt, sich an sie herangemacht und ihr den Kopf verdreht hatte … Und Kate dazu gebracht hatte – was sie nach sechs Monaten Gewissenserforschung nicht zu leugnen vermochte –, ihre Schwester zu hassen.
Sie hatte beobachtet, wie ihre Schwester langsam erwachsen wurde. Willa war immer scheu gewesen, fühlte sich wohler, wenn sie alleine auf den Dünen malte als in Gesellschaft anderer Menschen, vor allem von Männern. Mit einundzwanzig veränderte sie sich. Sie hatte eine Ausstrahlung, die von innen kam. Sie kapselte sich nicht mehr ab, ging häufiger aus. Andrew bemerkte die Verwandlung und sagte scherzhaft zu Kate: »Ich glaube, wir haben eine Herzensbrecherin unter unseren Fittichen.« Und Kate hatte erwidert, ebenfalls im Scherz: »Solange ihr eigenes Herz nicht gebrochen wird!«
Sie hatte viele Nächte wach gelegen und sich gefragt, wie die Affäre begonnen hatte. Von wem war der erste Schritt ausgegangen? Wo hatten sich die beiden heimlich getroffen? War Willa reizvoller für Andrew gewesen? Kate hätte ihre Schwester am liebsten umgebracht – auch diesen Punkt konnte sie nicht leugnen. Nicht Willas, sondern Kates Herz war gebrochen.
Sechs Monate, dachte Kate, das Lenkrad umklammernd. Sechs Monate der Dunkelheit und Verzweiflung.
Ihre Lebensgeister waren erloschen, verdorrt; der Kummer nagte an ihr, sie spürte ihn bis ins Mark. Ihre Kehle brannte von den vielen unausgesprochenen Worten.
Ich bin wütend auf dich, warum hast du mir das angetan? Ich liebe dich, mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt. Du warst wie mein eigenes Kind, du hast mir das Herz gebrochen …
Der kalte Wind, die im Oktober häufig in Neuengland herrschte, pfiff durch den Wagen. Kate schloss die Augen und stellte sich Washington, die Alabasterstadt, vor. Imposante weiße Gebäude, angestrahlt, keines höher als die anmutige Kuppel des Kapitols, leuchtend wie das sagenumwobene Land Oz. Die grünen Parks und öffentlichen Plätze, die Mall, die niedrigen Brücken über den sanft dahinfließenden Potomac.
Genauso war das Leben zu Hause gewesen: sanft und friedlich. Washington war eine schöne Stadt, weniger hektisch und nicht so hart wie New York oder Boston. Die Weiden und Marschen und Gezeitenflüsse und Dünen von Chincoteague und Assateague wirkten weicher als die Meeresküste von Neuengland … keine Felsen oder höher gelegenen Ortschaften, nur die sanfte Wiege der Mustangs, Austern und mutterlosen Mädchen.
Aber Willa war weggelaufen.
Kate schloss die Augen, ihre Finger waren starr vom eisigen Wind, obwohl die Heizung auf Hochtouren lief; sie hatte sechs Monate Zeit gehabt, über alles nachzudenken, zu begreifen, was geschehen war. Willa hatte Reißaus genommen, vor sich selbst und dem, was Andrew und sie getan hatten. Sie hatte ihr Heil in der Flucht gesucht, aus Angst vor Kates Schmerz und Wut – die nicht nur ihren Mann verloren hatte, sondern von ihrer eigenen Schwester verraten worden war.
Wie war sie auf die Idee gekommen,
hierher
zu fahren?
Wieso hatte sie, der die ganze Welt in sämtlichen Himmelsrichtungen offen stand, nach Norden, Süden, Osten, Westen, den Globus gedreht und ausgerechnet auf den Süden Neuenglands getippt?
Als sich Kate nun in ihrem Wagen vor John O’Rourkes Haus hin und her wiegte, fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen. Sie wusste, dass es gar nicht anders sein konnte; schließlich gab es niemanden, der Willa besser kannte als sie.
Das Refugium musste am Meer liegen; es musste den Geruch der salzigen Luft und den Klang der Gezeiten verheißen, bei Ebbe und Flut. Es musste Museen geben – ein Ort, der Kultur oder Lebensqualität, Kunst und unberührte Natur bot. Er musste weit genug von Washington und Chincoteague entfernt sein, um der Vorstellung von einer Flucht gerecht zu werden, aber nahe genug, um für Kate schnell erreichbar zu sein, wenn die Aufforderung an sie erging.
Die Aufforderung war Willas Postkarte gewesen.
Kate holte sie aus ihrer Tasche, hielt sie in der Hand. Sie zeigte den Ausblick vom East Wind: die schroffe Felsenküste, der Leuchtturm, der in der Ferne schimmerte, der gebogene Wellenbrecher, der vom
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