Die geheime Stunde
verlassen?
Sogar der Kürbis, den sie mit Maggie gekauft hatte, war von der Treppe verschwunden.
Bei ihrer fünften Erkundungsfahrt in zwei Tagen hielt sie schließlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite und betrachtete das Haus. Sie wünschte, es wäre in der Lage, alle Antworten preiszugeben, die sie in Bezug auf Willa zu finden hoffte.
Als sie sich im Sitz zurücklehnte, sah sie Teddys Fußball auf dem Rasen vor dem Haus und Maggies Gummistiefel, die noch auf der Veranda standen. Das Fenster mit der zerbrochenen Scheibe war mit Brettern vernagelt. An einem anderen Fenster hingen geblümte Vorhänge; es versetzte Kate einen Stich, als sie an die Mutter der Kinder dachte. Sie war bei einem Autounfall gestorben – verschwand genauso unvermittelt aus dem Leben ihrer Kinder wie Willa und ihre eigenen Eltern aus dem ihren.
Waren John und sie glücklich gewesen? Er hatte auffallend heftig reagiert, als Kate ihm von dem Ehebruch erzählt hatte; sie war sicher gewesen, dass er etwas Ähnliches durchgemacht hatte. Kate saß reglos da, mit klopfendem Herzen, und starrte auf das weiße Haus. Sie hätte gerne gewusst, ob John etwas geahnt und die verräterischen Anzeichen von Anfang an bemerkt hatte, ihre Bedeutung aber nicht wahrhaben wollte.
Der Nachmittag Ende Oktober war bitterkalt, als stünde der Winter bereits vor der Tür. Kate schloss die Augen, bezwang ihre Neugierde. Was ging es sie an, wie es um John O’Rourkes Ehe wirklich bestellt gewesen war? Untreue zerstörte die Liebe zwischen zwei Menschen. Sie hatte Kate das Herz gebrochen und zur Folge gehabt, dass sie ihr ganzes Leben in Frage stellen musste.
Nun hingen ihr Seelenfrieden und ihre geistige Gesundheit allein von einer Zeit ab, die weit zurücklag … von ihrer Kindheit, als Matt und Willa ihre einzige Familie gewesen waren. Damals in Chincoteague, vor langer Zeit … Kate hüllte sich in die Erinnerungen an ihre kleine Schwester ein.
Willa …
Sie waren am Pony Penning Day in Chincoteague in den Löschfahrzeugen der Feuerwehr mitgefahren, hatten auf dem Rücken der Mustangs das Flussbett durchquert; sie hatten ihren Bruder in seinem ausladenden Holzboot zum Austernfang begleitet; sie hatten Petunien, die Lieblingsblumen ihrer Mutter, auf den Gräbern ihrer Eltern gepflanzt; sie hatten ihre eigenen Christbäume geschlagen und sie mit dem alten Weihnachtsschmuck der Familie, den Schalen von Austern und Sanddollar-Seeigeln geschmückt; Kate hatte mit Willa Ballettaufführungen im Kennedy Center besucht; sie hatte ihr geholfen, einen besonders beliebten Platz im Lesesaal der Kongressbibliothek zu ergattern; sie war mit ihr zu Senatsanhörungen zum Thema Wasserverschmutzung und Schalentierindustrie gegangen; sie hatte ihr die ersten Aquarellfarben gekauft.
Das Leben mit Willa …
Als ihre Schwester noch klein war und die dritte Klasse der exklusiven St. Chrysogonus School in Washington besuchte, hatte sie einen Aufsatz über ein Buch ihrer Wahl schreiben müssen. Kate war mit ihr in die Bibliothek gegangen, wo sie ein ganzes Regal mit Biografien gefunden hatten – orangefarbene Bände über die Krankenpflegerin
Florence Nightingale,
die Luftfahrtpionierin
Amelia Earhart
oder den jungen Erfinder
George Washington Carver
.
»Was sind das für Leute, Katy?«, hatte Willa gefragt und versucht, eine Entscheidung zu treffen.
»Lies ihre Biografien, dann weißt du es.«
»Aber wer von den dreien würde mir am besten gefallen?«
»Das wirst du erst feststellen, wenn du die Bücher gelesen hast.«
Willa lachte, und Kate hatte gelächelt. »Du kennst mich doch, Katy. Was denkst du?«
»Ich denke … Amelia Earhart.«
»Weil sie dir gefällt?«
»Ja.«
»Wer war sie?«
Kate schlug das kleine orangefarbene Buch auf, blätterte darin und las dann ein Zitat von Amelia vor: »Mut ist der Preis, den das Leben fordert, um Frieden zu gewährleisten.«
»Sag schon, Katy!«
»Sie war Pilotin, als eine der ersten Frauen. Sie besaß ungeheure Willenskraft und bewies, dass Frauen alles erreichen können, was sie sich vornehmen.«
»Was zum Beispiel?«
»Zum Beispiel … lies das Buch, dann findest du es selbst heraus«, erwiderte Kate scherzhaft.
Willa fühlte sich magisch angezogen von dem orangefarbenen Bändchen und verschlang es in einem Zug. Fasziniert von dem kleinen roten Flugzeug, das Amelias Interesse an der Luftfahrt geweckt hatte, war sie durch ihr tragisches Ende gleichermaßen am Boden zerstört.
»War sie nicht mutig?«, hatte
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