Die geheime Stunde
Kate gefragt, als sie ihrer Schwester an jenem Abend Gute Nacht sagte. »Hat es dir gefallen, wie sie ihre Zeitgenossen herausforderte, die Vorurteile gegen Frauen in der Pilotenkanzel hatten?«
Willa hatte genickt und sich mit ihrem Buch unter die Bettdecke gekuschelt. Kate hatte sich auf die Bettkante gesetzt, es gab noch einen anderen wichtigeren Grund für ihre Frage. Nach Abschluss ihres Studiums der Molekularbiologie an der Georgetown University hatte sie ihre erste Stellung bei National Maritime Fisheries angetreten. Zu ihren Aufgaben gehörte unter anderem die Überprüfung der Schalentierbänke von der Chesapeake bis zur Penobscot Bay, und sie hatte mit dem Gedanken gespielt, den Flugzeugschein zu erwerben, um sich den Heimweg nach Chincoteague zu erleichtern.
»Wohin wollte Amelia bei ihrem letzten Flug?«, hatte Willa gefragt. »Warum wurde sie bis heute nicht gefunden?«
»Sie gilt als verschollen. Ihr Verschwinden ist noch heute ein Rätsel.«
»Ist das Flugzeug abgestürzt?«
»Das wird vermutet. Aber genau weiß das niemand.«
»Irgendjemand
muss sie doch gesehen haben …
irgendjemand
muss gewusst haben, wohin sie wollte.«
»Der Pazifik ist ein riesiger Ozean.« Kate hatte ihrer Schwester über das seidige Haar gestrichen.
»Und er hat sie verschlungen?«, hatte Willa gefragt, fasziniert und kummervoll.
»Keine Ahnung, Willie. Vielleicht ist sie auf einer Insel gelandet … einer herrlichen, einsamen Insel mit Palmen und Süßwasserlagunen … mit Austern, die sie essen, und Perlen, die sie tragen kann.«
»Und rosafarbenem Sand am Strand …«
»Und seltenen Vögeln in den Bäumen …«
»Ein magischer Ort«, hatte Willa geflüstert.
»Wie Narnia oder Oz.« Kate hatte ihrer Schwester die Bücher von C. S. Lewis und L. Frank Baum vorgelesen und beschwor nun, um Willa zu trösten, die Traumwelt herauf, die von den Autoren geschaffen worden waren.
»Hoffentlich.« Willa hatte zu schluchzen begonnen. »Katy, ich hoffe, Amelia ist auf einer wunderbaren, verzauberten Insel mit einer Lagune gelandet.«
»Sie wäre uralt, wenn sie noch leben würde.«
»Das macht nichts … sie darf ruhig alt sein. Jeder sollte alt werden …«
Hatte sie an ihre Eltern gedacht, die so früh verstorben waren? Kate wusste es nicht, aber sie hatte ihre kleine Schwester in die Arme genommen und beschlossen, die Flugstunden fürs Erste nicht zu erwähnen. Obwohl sie diese am Ende doch nahm – ihre Fluglizenz erhielt und sich mit mehreren Wissenschaftlern ein Charterflugzeug teilte –, wiegte sie Willa an jenem Abend stumm in den Schlaf, trauerte mit ihr um den Verlust ihrer Eltern und um Amelia.
Sie hatten auf vertrautem Fuß mit dem Tod gestanden; sie waren schließlich Vollwaisen. Doch dass jemand spurlos verschwand, war unmöglich, der Gedanke zu schrecklich. Die Vorstellung, dass Amelia Earhart einfach abgestürzt und vom Meer verschlungen sein sollte, war so grauenvoll, dass die Harris-Schwestern eine wunderschöne Insel mit rosafarbenen Sandstränden und seltenen Vögeln erfanden, um den Verlust zu verkraften.
Willa hatte kurz darauf zu zeichnen und später zu malen begonnen: großflächige Gemälde auf Holz, mit Farben und Linien, die Amelia Earharts facettenreiche, emotionale Geschichte erzählten. Wahrheit und Mythos, Fantasie und Wirklichkeit überlagerten sich Schicht um Schicht, schufen eine Biografie und eine Welt, die Erklärungen für das Geschehen bot; im Rahmen dieses Entwicklungsprozesses wurde aus ihr eine Künstlerin.
»Willa«, sagte Kate laut in ihrem Wagen vor dem Haus der O’Rourkes, hielt das Lenkrad umklammert.
Wenn sich ihre Schwester doch nur auf einer einsamen Insel befände, an einem magischen Ort; wenn es doch nur eine Erklärung dafür gäbe, dass sie seit einem halben Jahr spurlos verschwunden war; wenn sie doch nur durch die Tür des Kleiderschrankes käme oder dreimal mit den Absätzen aufstampfen würde, um wieder nach Hause zu gelangen; wenn sie doch nur rubinrote Schuhe besäße; wenn sie doch nur irgendwohin zum Malen gefahren wäre; wenn sie nur nicht verschollen wäre.
»Willa!«, sagte Kate abermals, aber dieses Mal schrie sie den Namen in ihrer Verzweiflung heraus. Sie hörte den Widerhall ihrer eigenen Stimme im Wagen, sie gellte in ihren Ohren.
All das Beten, Wünschen, Hadern und Ringen mit den Kräften des Universums, das Feilschen mit dem Schicksal, hatte ihre Schwester nicht zurückgebracht. Sie dachte an all die Nächte, in denen sie reglos
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