Die geheime Stunde
als sie jung und gertenschlank gewesen war, sondern auch später, als sie die Kinder bekommen und zugenommen hatte. Er liebte ihre glatte Haut, ihr schönes Gesicht, ihre Arme, vom Tennisspielen gestählt, ihren vertrauten Duft. Wenn er am Ende des Tages zu Bett ging und sie in seine Arme nahm, fürchtete er, das Herz könne ihm zerspringen. Und wenn er ihre Lippen küsste, rauschte das Blut in seinen Adern.
Ein Mann, der seinen Lebensunterhalt mit Worten verdiente: Aktennotizen, Schriftsätze, Eröffnungs- und Schlussplädoyers, Zeugenbefragung und Kreuzverhör, Konferenzschaltungen, Mandantengespräche, eidliche Aussagen … bei Theresa hatte er versucht, seinen Körper sprechen zu lassen. Er hatte ihr, so gut er es vermochte, zu zeigen versucht, wie sehr er sie liebte, mit seinen Händen, seinem Mund.
Er erinnerte sich an einen lateinischen Sinnspruch:
Cor ad cor loquitor.
Von Herz zu Herz sprechen. So war es bei ihm gewesen, und bei Theresa, wie er sich eingebildet hatte. Er hatte offenbar keine Ahnung gehabt, was sie wirklich empfand; manchmal schien es, als hätte er sie überhaupt nicht gekannt.
Während er auf dem Parkplatz des Witch’s Brew stand und die lächelnden, lachenden, kostümierten Leute hineingehen sah, fragte er sich unwillkürlich, ob sie nicht irgendwo an diesem umtriebigen Abend einen Ehemann oder eine Ehefrau zurückgelassen hatten. Die allein zu Hause saßen, in Reichweite des Telefons wartend, bemüht, nicht dauernd auf die Uhr zu schauen.
In jenen Wochen, als Theresa ihn betrog, hatte er sich ihr so eng verbunden gefühlt wie nie. Weil er gespürt hatte, dass sie ihm zunehmend entglitt, wurde sie für ihn noch unverzichtbarer als in der Zeit, die seit dem Abend vergangen war, an dem er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Er hatte sie mit Gewalt zurückhalten wollen, aber es war, als würde man versuchen, eine Hand voll Sand zu bewahren: Er rann zwischen den Fingern hindurch, wurde wieder Teil des Strandes. Am Abend ihres Todes hatte Theresa ihn schon seit langem verlassen.
Er hatte einen Eintrag in ihrem Terminkalender gefunden: Melody Starr anrufen, eine Scheidungsanwältin in Hawthorne. Hatte sie sich mit ihr in Verbindung gesetzt? John wusste es nicht, und es widerstrebte ihm, danach zu fragen. Wenn er Melody in der Halle des Gerichts begegnete, grüßte er sie und versuchte sich darüber klar zu werden, ob sie ihn seltsam, mitleidig oder geringschätzig ansah. Kannte sie Theresas verborgenste Geheimnisse?
John wusste es nicht und redete sich ein, es spiele keine Rolle. Scheidungsanwälte waren wie eine dritte Partei, Randfiguren. Die Ehe – glücklich und harmonisch oder ein Scherbenhaufen – war eine Sache zwischen zwei Menschen. Sie konnte nur zerbrechen, wenn einer der beiden Partner den Wunsch verspürte – und bereits anfing auszubrechen. Theresas Ausbruch aus der Ehe hatte lange vor ihrer Affäre begonnen.
John fragte sich, ob es bei Kate ähnlich gewesen war. Ob ihr Mann schon vor der Affäre mit ihrer Schwester ausgebrochen war. Wieder betrachtete er das Foto von Willa Harris. Ein bestrickendes, strahlendes, unschuldiges Lächeln. Kaum zu glauben, dass sich eine solche Frau auf ein Techtelmechtel mit dem Mann ihrer eigenen Schwester eingelassen hatte. Aber wie John selbst die harte Tour gelernt hatte, war sie in dem Ehedrama ebenfalls nur eine Randfigur, der eigentliche Grund lag immer anderswo.
Er wollte Kate Harris helfen, ihre Schwester zu finden. Er war sich nicht sicher, warum ihm das so wichtig war, dass es ihn an diesem kalten Freitagabend ins Witch’s Brew getrieben hatte, obwohl er lieber bei seinen Kindern zu Hause gewesen wäre, aber es war einfach so. Es hatte mit dem Bedürfnis zu tun, Fragen zu beantworten, inneren Frieden zu finden. Mit dem Bestreben, das Richtige zu tun.
Er holte tief Luft und stieg in seinen Wagen, um dem Eisregen zu entgehen, dann fuhr er langsam über die rutschigen, dunklen Straßen zum Haus seines Vaters. Wenn es heute Nacht irgendeinen Platz auf der Welt gab, an dem John O’Rourke Frieden finden konnte, dann nur dort, bei Maggie und Teddy.
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10
B evor sie am Samstagmorgen das East Wind verließ, fotografierte Kate die Landschaft von den Fenstern ihres Zimmers aus. Sie wollte den Ausblick im Gedächtnis behalten, den Willa gehabt hatte, und so machte sie Schnappschüsse von der Felsenküste, dem Wellenbrecher und dem Leuchtturm – alle Konturen wirkten weich in dem gespenstischen Nebel. Die Zeit, die sie hier
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