Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
Vom Netzwerk:
Bevor sie unbezahlten Urlaub genommen hatte, unfähig, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, hatte sie die Augen geschlossen und mit Willa geredet.
    Oder, wenn sie mit der Metro von ihrem Stadthaus auf dem Capitol Hill zu ihrem Büro in Foggy Bottom fuhr – nur wenige Blocks von ihrer ehemaligen Wohnung in Watergate entfernt –, hatte sie sich oft vorgestellt, Willa säße neben ihr. Sie hatte sich das Gespräch ausgemalt, das seit langem fällig war: Willa würde ihr erklären, wie es zu der Affäre zwischen Andrew und ihr gekommen war, und Kate würde aufmerksam zuhören und ihrer Schwester versichern, dass sie ihr verziehen hatte; sie wünschte sich eine solche Gelegenheit sehnlich herbei. Weil sie innerlich wie versteinert und rasend vor Wut gewesen war, als Willa ging.
    »Ich muss den Verstand verloren haben«, entfuhr es Kate, allein am Pier sitzend, ein weiterer Beweis, dass sie nahe daran war.
    Ihr Leben befand sich derzeit in einer Art Warteschleife, daran gab es keinen Zweifel. Sie war wissenschaftliche Leiterin des Meeresschutz-Forschungsteams der Akademie gewesen und hatte ihre Unterlagen einem Kollegen überantwortet, der ihre Vertretung übernehmen sollte, bis sie etwas über den Verbleib ihrer Schwester herausgefunden hatte. Sie wusste, dass sie im Moment weit davon entfernt war, ihrem eigenen Anspruch nach persönlichen Bestleistungen zu genügen.
    »Komm zurück, Willa«, sagte sie und spähte durch die Spiegelbilder in den Panoramafenstern, auf die Newport Bridge hinaus. »Komm zurück und gib mir die Chance, dir zu verzeihen.«
    Sie hielt inne. Fing sie etwa an, Detective Vieras Ansicht zu teilen – dass Willa durchaus die Möglichkeit hatte, sich zu melden? Dass ihre Schwester untergetaucht war, sich zu sehr schämte, um nach Hause zu kommen?
    Nein, dachte Kate entschlossen und starrte auf das dunkle Hafenbecken. Nein, das war unmöglich. Die Lichter der Brücke bildeten eine Kette aus leuchtenden Perlen zwischen den beiden turmhohen Stützpfeilern. Willa hatte die Brücke überquert, aber wohin war sie gefahren? Kate hatte sich in Connecticut und Rhode Island umgesehen, jetzt blieb nur noch eine Möglichkeit.
    Massachusetts.
    Fairhaven war nicht weit entfernt; rund dreißig Meilen in nordöstlicher Richtung. Kate musste ihre Suche nach Willa fortsetzen. Sie dachte an den Vollmond, der hoch droben am Himmel stand und die Gezeiten beeinflusste: Niemand sah es. Als Kinder hatten sie, Matt und Willa diese verborgene Kraft magisch und geheimnisvoll gefunden. Mit Kates Bedürfnis, Willa zu finden, verhielt es sich ähnlich: Es war eine mächtige Triebkraft, in ihrem Innern verborgen. Wer weiß, welcher Stein bei der Suche noch nicht umgedreht worden war, der nur auf Kate – Willas Schwester – wartete, für sie allein sichtbar?
    Sie konnte die Strecke nach Fairhaven in ungefähr einer Stunde schaffen. Danach musste sie nach Washington zurück und versuchen, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bringen.
    Abgesehen davon, hatte sie den schlimmsten Teil bereits hinter sich, oder nicht? Es war ihr gelungen, Greg Merrills Verteidigungsbastionen zu stürmen und John O’Rourke die Stirn zu bieten mit der Aufforderung, ihr zu sagen, was er wusste … auch wenn er keinerlei nennenswerte menschliche Anteilnahme erkennen ließ und ihm völlig gleichgültig zu sein schien, dass Willa – eine Frau, die perfekt zum Täterprofil seines Mandanten passte – noch immer vermisst war.
    Wenn es zutraf, dass alle Strafverteidiger herzlos waren und über Leichen gingen, war John O’Rourke ein Paradebeispiel. Die Sache war nur, dass Kate seine Fassade durchschaute. Sie wusste auf Anhieb, wann ein Mensch verletzt war. Sie wünschte, sie hätte sein Herz erweichen und ihn dazu bewegen können, ihr etwas zu erzählen, was Willa und im gleichen Zuge auch ihm helfen könnte. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass eine Art Seelenverwandtschaft zwischen ihnen bestand.
    Und er hatte wunderbare Kinder. Seine Liebe zu ihnen wurde hinter der harten Schale sichtbar. Kate hoffte, dass Maggie den Schal und die Fliegerbrille erhalten hatte, dass sie am Halloweenabend an dem Umzug teilnehmen, sich prächtig amüsieren und den Geist der Luftfahrtpioniere in ihrem eigenen Herzen verspüren würde.
    Die Kellnerin brachte die Rechnung. Kate legte ihre Kreditkarte auf das Tablett und nahm noch einen letzten Schluck von ihrem Kaffee, um sich für die Fahrt nach Massachusetts zu stärken. Sie schob ihren Stuhl zurück und verließ

Weitere Kostenlose Bücher