Die geheime Stunde
das Restaurant der Familienerinnerungen, gerüstet für die nächste Station ihrer Reise.
Die Fahrt kam ihr endlos lang und eintönig vor. Bonnie leistete ihr auf dem Beifahrersitz zusammengerollt Gesellschaft. Das Radio lief, ein lokaler Sender, der überwiegend Jazzmusik spielte. Kate überlegte, ob es nicht besser gewesen wäre, bis zum nächsten Morgen zu warten, wenn es hell war. Doch das Herz bestimmte den Verlauf ihrer Odyssee, ein innerer Zwang trieb sie nach Norden, auf der Suche nach Spuren, die ihre Schwester hinterlassen hatte. Sie hielt an einem Maxi-Mart, wo sie abermals einen Becher Kaffee kaufte, den sie während der Fahrt in kleinen Schlucken trank, um wach und munter zu bleiben.
Auf dem Weg nach Nordosten überquerte sie die Tiverton Bridge und kam durch die Mühlenstadt Fall River. Straßenlaternen erhellten ihren Weg, huschten durch den Wagen, als sie vorbeifuhr. Hier hatte Lizzie Borden vor einem Jahrhundert ihre Eltern umgebracht, und Kate spürte noch heute den eisigen Atem der Bluttat in der Luft. Mörder, die es zu trauriger Berühmtheit brachten, während die Opfer in Vergessenheit gerieten. Alle waren von Lizzie fasziniert, aber wer kannte die Vornamen ihrer Eltern?
Das traf auch auf Greg Merrill zu, dachte Kate. Wer waren seine Opfer? Anne-Marie Hicks, Jaqueline Keine-Ahnung-wie-noch, Beth oder Betsy … Sieben junge Mädchen oder Frauen insgesamt, und sie konnte sich nur an drei erinnern. Spielte ihr die eigene Psyche einen Streich; hatte sie seine bekannten Opfer aus ihrem Gedächtnis verdrängt, um sich nicht vorstellen zu müssen, Willas Name könnte auch auf der Liste stehen?
Sie hatte Artikel über Merrill gelesen, sein Gesicht in den Fernsehnachrichten gesehen, nachts von ihm geträumt. Ihre Gedanken und ihre Fantasie kreisten nur noch um ihn. Warum war er derart auf Wellenbrecher fixiert gewesen? Hatte seine Opfer in eine Steinkonstruktion gezwängt, die dazu diente, den Kräften der Natur entgegenzuwirken, die Gezeiten an der Zerstörung von Strand und Besitz zu hindern – an der Zerstörung von Leben?
Greg Merrill. Sie sprach den Namen laut aus: erst hart, dann flüssig. Greg: hart. Merrill: fließendes Wasser. Wie Stein und Wasser, Stein, der die Wellen bricht – Wellenbrecher.
Lizzie Borden. Ein Kindername. Ein klangvoller, ansprechender Name für eine junge Frau, die ihre Eltern mit einer Axt aus der eigenen Garage zerstückelt hatte.
Was für Menschen waren das, und wie hatte es zu den Verbrechen kommen können, die ihnen zur Last gelegt wurden? Ein Hauch von Lizzie Bordens Kaltblütigkeit breitete sich im Wagen aus, folgte ihr durch die Straßen von Fall River, wo überall Zeichen des Schabernacks zu sehen waren, der an Halloween Tradition war: zerschmetterte Kürbisse, mit Toilettenpapier umwickelte Bäume, geparkte Autos mit Rasierschaum verschmiert.
Kate fädelte sich auf die Route 195 nach Osten ein. Im Radio erklang leise Jazzmusik; jede halbe Stunde wurde sie durch Nachrichten unterbrochen, brandaktuell und aus der Region, gesprochen von einem Moderator mit einer beruhigenden, einschmeichelnden Stimme, die herunterging wie Öl. Dieser Streckenabschnitt der Schnellstraße war unbeleuchtet, verlief durch das dunkle, flache Hinterland; das schwarze Wasser der Marschen im Landesinneren floss rechter Hand zum Meer.
In New Bedford tauchten die Lichter der Stadt den Himmel in einen gespenstischen orangefarbenen Schein. Am Straßenrand sah Kate riesige Reklametafeln, die für Flüge und Fähren nach Martha’s Vineyard und Nantucket warben. Ein mächtiger schwarzer Wal auf einem dieser Schilder legte den Passanten dringend nahe, das Whaling Museum zu besuchen.
Sie starrte es an und fühlte, wie sich Aufregung in ihr ausbreitete.
Das Walfangmuseum – ein Fingerzeig?
War Willa hier gewesen, um sich das Museum anzuschauen? Schon als Kind war sie von den Meeressäugern fasziniert gewesen. Ihr Bruder hatte sie zweimal im Jahr – im Frühjahr und im Herbst – in seinem Boot mit aufs Meer hinausgenommen, um die atemberaubende Wanderung der Wale in nördliche und südliche Richtung entlang der Atlantikküste aus der Nähe zu beobachten.
Kate erinnerte sich, wie sie ihre kleine Schwester auf den Schoß genommen und Matt den Motor gedrosselt hatte, respektvoll Abstand haltend …
»Was IST das?«, hatte Willa gefragt und Kates Hals umklammert, mit einer Stimme, die ehrfürchtiges Staunen und blankes Entzücken verriet.
»Eine Buckelwalmutter und ihr
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