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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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ihren Füßen schien ins Wanken zu geraten, wie immer, wenn ihr klar wurde, dass ihre Schwester seit einem halben Jahr spurlos verschwunden war und kein Mensch wusste, wo sie steckte.
    »Ich kann Ihnen nicht viel Neues berichten«, erklärte er. »Ich hatte ein Gespräch mit – wie war gleich der Name« – er blätterte in seinen Notizen – »ach ja, Detective Abraham O’Neill in Washington D. C.«
    »Ja, er leitet die Ermittlungen … Ich habe zuerst die Polizei in Washington eingeschaltet. Als sie nicht nach Hause kam.«
    »Das war völlig korrekt, da sie dort ihren ersten Wohnsitz hat. Die Ermittlungen konzentrierten sich auf Newport, wenn ich mich recht erinnere, den letzten Ort, an dem sie gesehen wurde …«
    Sie versuchte zu lächeln, dankbar für seine Hilfsbereitschaft, und nickte. »Ja.« Trotzdem hörte sie auch das Wort, das er taktvollerweise ausgelassen hatte: lebend.
    »Was führt Sie zu mir, Miss Harris?«
    Diese Frage. Sie brachte sie schneller an den Rand der Tränen als jede andere. Sie schürzte die Lippen, saß einen Augenblick lang reglos da und starrte die große Wanduhr an, sah zwanzig Sekunden verstreichen, bevor sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte und ihrer Stimme traute.
    »Ich muss wissen …«
    Detective Joseph Viera wartete. Er merkte offenbar, dass sie noch nicht so weit war, konnte vermutlich nachfühlen, was jetzt in ihr vorging. Er hatte gewiss nicht zum ersten Mal Angehörige einer vermissten Person vor sich; vielleicht war ihre Reaktion das vorhersehbare Symptom eines grauenvollen Zustands, unter dem viele litten: das Vermisste-Schwester-Syndrom. Bestimmt gibt es so etwas, dachte sie. Für dieses Gefühl der abgrundtiefen Verzweiflung musste es eine Bezeichnung geben.
    »Entschuldigung«, murmelte sie, am ganzen Körper zitternd.
    »Lassen Sie sich Zeit.«
    »Es ist schon so viel Zeit vergangen … ich habe die Hoffnung nie aufgegeben, dass das Telefon läutet und jemand mir mitteilt, dass sie gefunden wurde …«
    Der Detective nickte, doch sein matter Blick gab ihr zu verstehen, dass er nicht daran glaubte.
    »Ich weiß, dass die Washingtoner Polizei ihr Bestes getan hat – sie hat alle möglichen Meldungen und Polizeiberichte aus drei Bundesstaaten und dem Distrikt zusammengetragen. Aber ich bin ihre Schwester und fühle mich für sie verantwortlich, deshalb bin ich hier, ihretwegen. Ich möchte
ihr nahe sein …
ihrer Spur persönlich nachgehen.«
    »Ich verstehe.«
    Kate schwieg, wusste, dass dem nicht so war. Der Detective hatte keine Ahnung – er kannte die Einzelheiten nicht, die schmerzlichen Einzelheiten, die dazu geführt hatten, dass Willa auf und davon gegangen war. Er war über die Affäre informiert; der gesamte Polizeiapparat wusste Bescheid. Sie hatten Andrew vernommen, und Kate. Aber er wusste nichts von Kates Schuldgefühlen – sie hatte Willa ermutigt, für Andrew zu arbeiten, und sie hatte in ihrer Wut gesagt, dass sie ihr niemals verzeihen würde.
    »Ich denke viel über Greg Merrill nach«, sagte Kate und beobachtete Vieras Augen.
    »Den Wellenbrecher-Mörder?«
    Kate nickte.
    »Er hat die meisten Morde in Connecticut begangen«, warf Viera ein. »Wenn ich mich nicht irre, sogar alle.«
    »Alle, von denen die Polizei weiß.«
    »Ihre Schwester würde in das Täterprofil passen, soweit es mir bekannt ist.« Vieras Blick war auf den Stapel Papiere gerichtet. »Aber wenn ich mir ihre Akte anschaue, fallen mir viele andere Dinge auf. Es ist durchaus möglich, Miss Harris, und ich bin sicher, Detective O’Neill würde das Gleiche sagen, dass Ihre Schwester einfach nicht …«
    »Gefunden werden will.«
    »Unter dem Strich deutet alles auf eine unselige Liebesaffäre hin. Unselig für alle Beteiligten. Vielleicht dachte sie, es sei das Beste … stillschweigend das Weite zu suchen. Scham ist ein gewichtiges Motiv.«
    »Unmöglich«, widersprach Kate heftig. »Das würde mir Willa niemals antun.«
    »Na gut, wenn Sie meinen, Sie kennen schließlich Ihre Schwester.« Kate konnte beobachten, wie Vieras Gesicht sich verschloss: Die Augen waren plötzlich auf der Hut, die Kiefermuskeln angespannt. Sie bedauerte ihren Gefühlsausbruch. Jetzt würde er jedes Wort auf die Goldwaage legen, wie im Gespräch mit allen anderen emotional aufgeladenen Angehörigen.
    Er behandelte sie mit unverminderter Höflichkeit, sogar mit einer gewissen Freundlichkeit. Er blätterte in Willas Akte, erläuterte Einzelheiten, auf die sie gestoßen waren.
    Da war die

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