Die geheime Stunde
immer noch zweimal im Jahr auf ihrer Wanderung durchquerten –, wo er eine Zigarette nach der anderen qualmte und die vorüberziehenden Wale beobachtete.
Matt lebte in einer winzigen, heruntergekommenen Fischerhütte, umgeben von Bergen aufgebrochener weißer Austernschalen. Kate hatte für sich die Erklärung zurechtgelegt, dass er immer noch nach der Königinperle suchte, in dem Glauben, dass seine Schwester nach Hause zurückkehren würde, sobald er sie fand. Bärtig und ausgemergelt, wurde Matt von den Kindern und Jugendlichen in Chincoteague der »Eremit« genannt.
Kate zitterte, verdrängte seufzend das Bild. Eins nach dem anderen, dachte sie; ich kann mich nicht mit beiden Geschwistern gleichzeitig befassen. Und heute Abend ging es ausschließlich um Willa …
Durch eine schmale Brücke mit New Bedford verbunden, war Fairhaven ein kleinerer Ort, der anheimelnder wirkte, aber die Luft war genauso salzig. Kate griff neben sich in die Handtasche und holte das Blatt Papier heraus, das sie von Detective Abraham O’Neill erhalten hatte.
Darauf waren der Name und die Adresse der Texaco-Tankstelle vermerkt, an der Willas Kreditkarte benutzt worden war. Nachdem sie einen raschen Blick auf die Adresse geworfen hatte, öffnete Kate mit einem Schütteln die Straßenkarte, die sie im Internet gefunden und ausgedruckt hatte, und suchte die Spouter Street 412.
0,6 Meilen geradeaus, dann links abbiegen, 1,1 Meilen geradeaus, an der Ampel rechts.
Kate folgte der Wegbeschreibung durch den Bootshafen, an einem Bürokomplex vorbei und in ein Wohnviertel mit Drei-Familien-Häusern hinein. An der Kreuzung hielt sie vor der roten Ampel und sah nach rechts: eine kleine Einkaufsmeile mit dem Texaco-Zeichen am Straßenrand.
Auf die Bedürfnisse der Anwohner ausgerichtet, wirkten die Geschäfte irgendwie … bescheiden, dachte Kate.
Ein Waschsalon, eine Wertstoff-Sammelstelle und eine Tankstelle mit sieben Zapfsäulen und einem integrierten Laden, in dem es allerlei Waren für den täglichen Gebrauch zu kaufen gab.
Willa war hier,
dachte Kate, wobei ihr ein Schauer über den Rücken lief.
Das ist keine graue Theorie, sondern dafür gibt es Beweise.
Ihre Kreditkarte war zum Tanken benutzt worden – für zehn Dollar und fünfzig Cents. Kate hielt das Blatt Papier in ihrer zitternden Hand.
Sie parkte den Wagen vor dem Laden, erklärte Bonnie, dass sie gleich wieder da sein würde, ließ das Radio an und ging unter der hell erleuchteten Überdachung zu den Zapfsäulen. Auf einem Schild stand, dass man Kreditkarten in den entsprechenden Schlitz an der Zapfsäule einführen, die Treibstoffart und den Oktangehalt wählen und die Transaktion ohne Unterschrift abschließen könne.
Kates Herz sank. Obwohl sie das Verfahren kannte, hatte sie sich gewünscht, es wäre anders und der Benutzer – sei es Willa selbst oder jemand anders gewesen – hätte die Kreditkarte nicht ohne Unterschrift verwenden können.
Sie betrat den Laden. Ein Mann saß hinter dem Tresen, las in einer Zeitschrift.
»Entschuldigung«, sagte sie.
»Ja bitte?« Er sah hoch.
»Sind Sie der Pächter oder Besitzer?«
Der Mann lachte. »Nein«, erwiderte er, als sei das ein Scherz.
»Arbeiten Sie schon lange hier?«
Er lächelte. »Drei Jahre.« Kates Haut begann zu prickeln.
»Kennen Sie …« Ihre Kehle war wie zugeschnürt, als sie das Foto aus ihrer Handtasche zog. »Kennen Sie diese Frau?«
Der Mann musterte Willas Bild.
Er hob es vor sein Gesicht, um besser zu sehen. Kate betrachtete seine Hände. Sie waren sauber, wirkten weich und gepflegt. Leute, die an Tankstellen arbeiteten, mussten schon lange nicht mehr Benzin zapfen oder Autoreparaturen durchführen. Aber was wäre, wenn sie diesem Mann in die Hände gefallen wäre? Wenn sie getankt und ihn hier angetroffen hätte, alleine, mit seiner Zeitschrift? Wenn er etwas von ihr gewollt hätte, was sie nicht bereit war zu geben?
Und wenn er sie in ein dunkles Versteck geschleift und so sehr verletzt hatte, dass an eine Rückkehr zu Kate und Matt nicht mehr zu denken war?
Der Mann sah hoch, einen freundlichen Ausdruck in den dunklen Augen.
»Nein, ich hatte an dem Abend keinen Dienst, als sie hier war. Ich kenne das Foto natürlich. Die Polizei hat uns befragt. Niemand hat sie gesehen; sie – oder jemand anders – hat einfach ihre Karte eingeworfen. Sind Sie … Ihre Schwester?«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Kate, Tränen in den Augen.
»Sie sehen sich ähnlich.« Er warf abermals
Weitere Kostenlose Bücher