Die geheime Stunde
Junges«, hatte Kate geantwortet.
»Siehst du die weißen Flossen?«, hatte Matt eingeworfen, die allgegenwärtige Zigarette im Mundwinkel, die Kappe als Schutz gegen die Sonne tief in die Stirn gezogen. »Daran erkennt man einen Buckelwal.«
»Buckel-wal«, hatte Willa nachgeplappert.
»Schlaues Mädchen!«, hatte Kate gesagt, und Matt hatte ihr stolz zugeblinzelt.
»Und, was macht sie da?«, hatte Matt gefragt, als die Mutter einen weiten Kreis schwamm und Blasen an die Wasseroberfläche stiegen.
»Essen!«, hatte Willa gelacht.
»Genau, kleine Zuckerschnecke«, hatte Matt gesagt. »Ihr Atem wirkt wie eine einzige heftige Explosion, mit der sie ihre Beute an die Oberfläche bringt. Sie muss die kleinen Fische nur noch mit weit geöffnetem Maul einsammeln.«
»Sie muss Hunger haben.«
Matt hatte gegrinst. »Das kann man wohl sagen. Einen Bärenhunger.«
»Du bist ein kluges Mädchen«, hatte Kate gesagt und Willas goldbraune, von der Sonne ausgebleichte Haare zerzaust. »Du wirst eines Tages eine gute Meeresforscherin abgeben.«
»Hör nicht auf sie, Zuckerschnecke«, hatte Matt gelacht und eine neue Zigarette am Stummel der alten angezündet, den er ins Meer schnippte. »Geh lieber mit mir auf Austernfang. Wir gründen eine Firma, Harris und Harris, und reißen uns sämtliche Austern von Chincoteague bis Ocean City unter den Nagel, bis wir die Königsperle finden.«
»Königinperle«, hatte Kate ihn berichtigt. »Wenn du sie schon ins Austerngeschäft locken musst, solltest du wenigstens aufgeschlossen sein und deinen Sexismus ablegen.«
»Reg dich ab, Katy-Schatz.«
»Du weißt, dass du dir den Fang fürs ganze nächste Jahr verderben kannst, wenn du Zigarettenkippen ins Meer wirfst?«
»Tatsächlich? Wie kommst du denn darauf?«
»Angenommen, eine Goldmakrele frisst sie, in der Annahme, es sei eine schmackhafte Elritze. Der Filter verstopft den Verdauungstrakt – der Fisch verendet. Ein Glied in der Nahrungskette, dessen Fehlen sich bemerkbar macht. Die Goldmakrele lebt nicht mehr, um Heringsfische zu verspeisen, die wiederum Aale fressen, von denen durchgekaute Brocken auf den Meeresgrund fallen, als Nahrung für deine kostbaren Austern …«
»Ich weiß, ich bin ein Umweltverschmutzer. Was willst du tun – mich vor den Kadi bringen?«
»Keine schlechte Idee.«
»Du bist im Kreis von Wassermännern aufgewachsen«, hatte Matt gesagt. »Du weißt mehr über das Meer als deine neunmalklugen Professoren, die dir Biologie und Chemie und weiß der Teufel was sonst noch während deines Studiums beibringen, für das du dich verschuldest. Dabei könntest du
ihnen
etwas beibringen, Katy.«
»Schon, aber das verschafft mir keinen Arbeitsplatz.«
Halb grollend, halb lächelnd, hatte Matt an seiner Zigarette gezogen und den Kopf geschüttelt.
»Da, noch mehr Wale!«, hatte Willa gerufen, ihre Geschwister ignorierend, während sie ihren Blick eifrig über die Wellen schweifen ließ.
In einem Alter, in dem die meisten Kinder das ABC lernten, verblüffte Willa Harris ihren Bruder, den Austernfischer, und ihre Schwester, die angehende Wissenschaftlerin, mit ihren Walkenntnissen. Matt hatte das Revier umkreist, und die drei Geschwister hatten beobachtet, wie die Wale vierzig Minuten lang aus dem Wasser sprangen und fraßen, bis sie ein paar hohe Töne ausstießen und davonschwammen.
Als Kate an der Reklametafel des Museums vorüberfuhr, blieb die riesige, ausgeschnittene Wal-Silhouette im Rückspiegel sichtbar. Kate betrachtete sie einen Moment sinnend – fragte sich, ob Willa die Ausstellung während ihres Aufenthalts im Norden besucht hatte –, dann bog sie in die Ausfahrt nach Fairhaven ein.
Sie ließ die Fensterscheiben einen Spaltbreit herunter. Die Luft schmeckte nach Meer. Bonnie stellte sich auf die Hinterbeine, die Nase an der Öffnung. New Bedford war eine geschäftige Hafenstadt, und gespenstisch aufragende Masten säumten die Linie des Horizonts. Überall lagen Fischerkähne, Segelboote und Passagierschiffe im Trockendock. Es versetzte Kate einen Stich, als sie daran dachte, dass es Matt hier gefallen würde. Die Erinnerungen an ihn waren schmerzlich; mit Willas Verschwinden schien etwas in ihrem Bruder gestorben zu sein.
Schon immer ein Einzelgänger, hatte sich Matt zu einem wahren Einsiedler entwickelt. Das Meer war sein einziger Freund. Man munkelte, dass er Selbstgespräche führte, wenn er mit seinem Boot unterwegs war. Er wurde oft im Walrevier gesehen – das die Buckelwale
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