Die geheime Stunde
war.«
»Hat er dir das erzählt?«
»Ja.«
»Von WILLA ?« Sie schrie beinahe.
»Nein – nicht von Willa. Aber von den anderen. Und dass er das Mädchen in besagtem Fenster beobachtet hat.« Es war passiert – er hatte es getan – hatte die Schweigepflicht gegenüber seinem Mandanten verletzt. Ein Anruf von Kate Harris bei Gericht und John O’Rourkes Karriere war beendet. Vielleicht war sie das so oder so? Wie konnte er nach alldem weitermachen, als sei nichts geschehen?
»O nein, o nein«, wiederholte Kate und schüttelte den Kopf.
»Komm.« John legte den Arm um sie und führte sie zu ihrem Wagen. Er legte ihr beide Hände auf die Schultern und drückte sie sanft nach unten, so dass sie sich an die Motorhaube anlehnen konnte.
Es gab Grenzen im Leben, die rechtschaffene Menschen niemals überschritten. John hatte sie immer klar vor Augen gehabt. Sie waren nicht wie Sünden – wie Lügen oder Stehlen. Sie wogen viel schwerer; sie betrafen Gelöbnisse, Versprechen, die ein rechtschaffener Mensch einhalten musste, um seine Redlichkeit zu bewahren.
Ein rechtschaffener Mensch tötete nicht. Und beging keinen Ehebruch. Und ein Rechtsanwalt beging keinen Vertrauensbruch gegenüber seinem Mandanten. Dabei spielte es keine Rolle, ob dieser Mandant ein Dieb, ein Vergewaltiger, ein Mörder oder alles in einem war. Es ging nicht um das Verbrechen an sich, sondern um das Prinzip, das wichtiger war als alles andere, oder jeder andere.
An diesem Prinzip – der ethischen Verpflichtung eines Anwalts, die Schweigepflicht gegenüber seinem Mandanten zu wahren, nach bestem Wissen und Gewissen dafür zu sorgen, dass er einen fairen Prozess erhielt – hatte John sein ganzes Leben ausgerichtet. Werte, die er von seinem Vater übernommen hatte.
Dem Wort und den Lektionen seines Vaters maß John O’Rourke allerhöchste Bedeutung bei. Er hoffte, sie an kommende Generationen weiterzugeben, an seinen Sohn und seine Tochter, und an deren Söhne und Töchter.
»Was soll ich jetzt tun?« Kate begann zu zittern.
»Nach Hause fahren. Die Suche beenden.«
»Aber Willa …«
»Der Albtraum muss ein Ende haben.«
»Wie kannst du das sagen? Mir scheint, als hätte er gerade erst begonnen …« Ihre Stimme wurde lauter. Sie streckte Hilfe suchend die verletzte Hand aus, hatte das Bedürfnis, John zu berühren – er würde sie verstehen. Sie hatte sich Auge in Auge dem Ungeheuer gegenübergesehen, dem er jeden Tag begegnete.
»Kate.« Er wusste, dass er jetzt gehen sollte. Er hatte ihre Bitte erfüllt; sie in die Arme zu nehmen würde alles nur noch schlimmer machen. Aber er sehnte sich unbändig nach ihr; er sehnte sich nach der Berührung eines Menschen, der diese Berührung erwiderte, der den Kontakt genauso brauchte wie er, sehnte sich nach einer Frau mit Flussaugen und liebevollem Blick, die betrogen worden war, aber dennoch genug Gefühle für ihre Schwester hatte, um sich auf die endlose Suche nach ihr zu machen.
»Ich muss sie trotzdem finden«, flüsterte sie, mit ausgestreckter Hand. »Willa …«
John zitterte, hätte sie gerne umarmt. Stattdessen nahm er ihre Hand. »Sie ist bei dir, Kate. Dort, wo es am meisten zählt.«
»Wo?« Ihre Kehle brannte, als sie das Wort aussprach.
»Da drinnen.« Er deutete auf ihr Herz. »Nimm sie mit nach Hause, zu deinem Bruder … und lass es damit bewenden. Lass es einfach damit bewenden.«
Leise schluchzend senkte sie den Kopf. John öffnete die Autotür. Brainer wollte unbedingt bei Bonnie im Wagen bleiben, aber John packte ihn am Halsband und zerrte ihn nach draußen. Er blickte auf Kate hinunter; wenn sie ihn jetzt ansah, wenn sie ihm abermals die Hand entgegenstreckte, würde er sie in die Arme schließen und außerstande sein, sie loszulassen. Er wünschte es sich beinahe; er wollte, dass sie ihn umarmte, ihm das Gefühl gab, nichts von seiner Rechtschaffenheit eingebüßt zu haben.
Doch Kate Harris tat es nicht; sie schenkte ihm keine Beachtung und weinte, trauerte um ihre Schwester, während John mit raschen Schritten den Parkplatz überquerte. Brainer ging neben ihm und sprang auf den Rücksitz, als er die Autotür aufsperrte.
Das Fenster des Mädchens war verhängt und dunkel. John warf einen Blick auf sein Handy – kein blinkendes Licht, das den Eingang einer Nachricht anzeigte. Das bedeutete, dass Maggie und Teddy zu Hause waren, bei Maeve und dem Richter. Merrill saß im Todestrakt hinter Schloss und Riegel. Im Moment war alles, wenn schon nicht
Weitere Kostenlose Bücher