Die geheime Stunde
hundertprozentig sicher, so doch in bester Ordnung.
John schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr zu Kate hinüber. Er blieb im Wagen sitzen und sah sie an, bis sie ihr tränenüberströmtes Gesicht hob und wie hypnotisiert in die Lichter blickte. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen: Wie viele Opfer von Merrill oder anderen seines Schlages hatten gleichermaßen die Scheinwerfer ihres Mörders fixiert?
Er wartete, ohne das Fenster herunterzukurbeln – aus Angst, dass ihn ein einziges Wort von ihr an der Abfahrt hindern könnte –, bis sie sich erschöpft aufrichtete. Wie eine Schlafwandlerin ging sie um den Wagen herum zur Fahrerseite, öffnete die Tür, stieg ein. Bonnies Kopf tauchte über dem Armaturenbrett auf, unangebracht freundlich und niedlich. Brainer bellte.
Die Straßenbeleuchtung erhellte Kates Gesicht. Sie sah ihn lange an. Dann hob sie die Hand, bedeutete ihm mit einem Winken wegzufahren. John saß reglos da und wartete – wollte sie nicht alleine auf diesem Parkplatz zurücklassen. Schließlich legte sie den Rückwärtsgang ein und fuhr los, auf die Straße hinaus. Im Rückspiegel sah er, wie sie in westliche Richtung davonfuhr.
Er blieb noch einen Augenblick sitzen.
Als er seine Fensterscheibe herunterkurbelte, traf ihn ein kalter Windstoß, der vom Meer herüberwehte. Die Stimmen der Gläubigen wurden lauter, stimmten eine Hymne auf Portugiesisch an, um sich auf den Allerseelentag einzustimmen. John meinte den Kerzenrauch wahrzunehmen. Als er den Kopf drehte, sah er die Lichter in der Ferne flackern, zwischen den Gräbern.
Wie immer, wenn er an einer Kirche vorüberkam oder an eine dachte, sagte er ihre Namen – betete sie herunter wie eine Litanei für die Mädchen, die sein Mandant umgebracht hatte. »Anne-Marie, Terry, Gayle, Jacqueline, Beth, Patricia, Antoinette …« Heute Abend fügte er einen weiteren hinzu.
»Willa«, sagte er laut.
Kates rotes Rücklicht verschwand um die Ecke, und Johns Herz begann zu hämmern. Er hatte ihrer Schwester soeben die schlimmste Nachricht überbracht, die man sich vorstellen konnte. Er wünschte, er könnte es ihr leichter machen, damit fertig zu werden, sie trösten, aber das stand außer Frage.
Er hatte sie geküsst. Das war immerhin ein Anfang, oder? Es bewies, dass er innerlich nicht völlig tot war, sondern trotz allem noch in der Lage, eine Beziehung herzustellen. Hatte Kate sich diese Fähigkeit ebenfalls bewahrt? Der Verrat hatte letztlich keinen von beiden umgebracht. Aber ihre Schwester war verschwunden, einem Verbrechen zum Opfer gefallen, und sein Kuss war nichts im Vergleich dazu.
John war sicher, dass sie ihn bereits vergessen hatte.
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13
D er Flug nach Washington weckte Erinnerungen an Willa, wie Kate ihre Schwester in der kleinen Cessna mitgenommen hatte, über dem Potomac gekurvt und nach Osten über endlose grüne Meeresbuchten zu den Sandstränden von Chincoteague geflogen war. Die Bilder, die ihr durch den Kopf gingen, waren so lebhaft und malerisch, dass sie immer noch den Geruch des Wassers, das dem Gezeitenwechsel unterworfen war, und des Besengrases in der Nase hatte. Sie dachte an Johns Arme, die sie umfangen hatten, spürte wieder seinen Kuss … und das Glück, einen Menschen erneut so zu berühren.
Gefolgt von der grauenvollen Realität dessen, was er ihr über Willa erzählt hatte, die Merrill über den Weg gelaufen war, seine Pläne durchkreuzt hatte …
Nach der Landung auf dem Reagan Airport hatte sie keine Lust, gleich nach Hause zu fahren. Sie verließ die Ankunftshalle und ging mit Bonnie unverzüglich zum Private Aviation Centre hinüber, in dem Firmen untergebracht waren, die Flugzeuge an Privatpiloten vermieteten. Sie schob ihre Amex-Karte über den Tresen und charterte den einzigen Viersitzer, der im Moment verfügbar war – die alte gelbe Cessna, mit der sie schon hundertmal in Begleitung von Willa geflogen war.
Das Cockpit war für sie ein zweites Zuhause. Die brüchigen Ledersitze, die Sonnenblende aus blauem Kunststoff, das altmodische Steuerpult. Bonnie rollte sich auf dem Sitz hinter ihr zusammen, in Erwartung des bevorstehenden Starts. Kate ging gewissenhaft ihre Checkliste durch, fuhr die Spreizklappen an den Tragflächen ein und stieg wieder in das endlose Blau des Himmels auf, das sie gerade erst hinter sich gelassen hatte, als sie gelandet war. Instinktiv griff sie zum Hals, um ihren Glücksbringer, den weißen Schal zu berühren.
Natürlich, sie hatte ihn ja Maggie gegeben. Der
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