Die geheime Welt der Frauen
erbärmlich musste sie sich anhören. Als wäre es eine Großtat, Lev dazu zu bringen, am Wochenende die Dachrinnen zu reinigen. Dennoch musste sie ihn dazu antreiben, und es war auch notwendig: Der alte Baum neben dem Haus verlor die Blätter früh im Jahr. In der ersten Oktoberwoche wäre die Dachrinne mit Laub verstopft, das im Winter anfrieren würde, wenn man nichts unternahm, und dann drohte, die Dachrinne zusammenbrechen zu lassen.
Schon vor zwei Wochen hatte sie angefangen, Lev daran zu erinnern, und am Morgen vor der großen Tat spornte sie ihn beim Frühstück zur Eile an. Lev protestierte und wies darauf hin, es sei schließlich die einzige größere Aufgabe an diesem Tag und daher bestehe kein Grund zur Eile. Sima gab nicht zu, dass sie Angst hatte, er könne zu viel Koffein im Leib haben, bevor
er die Leiter hinaufkletterte. Stattdessen erklärte sie, dass sie ihn kenne, und wenn er sich nicht gleich daranmache …
»Es ist Shabbes, Sima. Entspann dich.«
Sima nahm seine Tasse vom Tisch und schüttete den Kaffee in den Ausguss.
»Sima!«
Sie zuckte die Achseln. »Ich mach dir später frischen. Jetzt komm, machen wir uns an die Arbeit.«
In den ersten Jahren ihrer Ehe hatten die beiden den Sabbat eingehalten: Sie gingen in ihren besten Kleidern in die Synagoge. Simas hochhackige Schuhe drückten ein wenig, sodass sie nach Levs Hand griff und diese bis zum Straßenende festhielt, bevor sie sich im kühlen Vorraum vor dem goldblättrigen Baum des Lebens trennten. Die Frauen eilten durch eine Tür, die Männer durch eine andere, die Kinder entschieden selbst, mit wem sie mitgehen wollten. Sima nickte Lev zum Abschied zu, fand einen Platz in der Frauenabteilung und beugte sich vor, um den Klatsch mitzubekommen: »Hast du gehört …«, »Hast du gesehen …«. Sie steckte das Spitzentuch auf ihrem Kopf fest, riss die Augen auf und verneinte, nein, sie habe es nicht gesehen, nichts gehört. Schließlich folgte sie ein paar Frauen in den Vorraum, damit die Kinder spielen konnten, während sie sich unterhielten und Neuigkeiten austauschten. Ab und zu unterbrachen sie das Gespräch, um die Kleinen zur Ruhe zu ermahnen. Die Frauen warteten, dass der Gottesdienst zu Ende ging, und Sima wartete auf den Tag, an dem ihr eigenes Kind dabei sein würde.
Nach der Synagoge gab es immer ein ausgiebiges Mittagessen mit Freunden. Die Nachmittagssonne schien auf den Tisch, alle fühlten sich schläfrig von zu viel Brot und Wein. Dann kehrten Sima und Lev heim, um sich dem Vergnügen eines Nachmittagsschläfchens, dem Luxus gegenseitiger Berührungen
mitten am Tag hinzugeben, und mit dem Abend stellte sich ein neues Gefühl der Freiheit ein.
Die Samstagabende hatten ihr ganz eigenes Ritual, genauso speziell, fand Sima, wie das Anzünden der Kerzen, der Segensspruch über Brot und Wein. »Was soll ich anziehen?«, fragte Sima immer, wenn sie mit Abend-Make-up aus dem Badezimmer kam: schwarze Wimperntusche statt brauner, rote Lippen statt roséfarbener. Lev drehte den Fernseher ab, während er überlegte, und machte schließlich einen Vorschlag, der Sima zum Lachen brachte - »Das Purpurne? Das Blaue?« Denn beide wussten, dass er eh nie bemerkte, was sie trug, und selten daran dachte, ein Kompliment über ein Kleid zu machen.
»Nun«, sagte sie dann immer und drehte sich zu ihm um, nachdem sie angezogen war, »wie wär’s mit dem, ist das okay?«
»Ja«, antwortete Lev dann lächelnd, »das ist in Ordnung.«
Hand in Hand verließen sie die Wohnung, gingen zu einem Restaurant oder ins Kino oder, ein paar Mal im Jahr, ins Theater, die Stadt voller Lichter, die sie erwarteten. Und wenn er am Ende des Abends im kleinen, gekachelten Flur ihres Apartmenthauses nach den Schlüsseln griff, hielt er ihr die Tür auf und fragte: »Hast du dich gut unterhalten?« Und sie drehte sich zu ihrem jungen Ehemann um und sagte Ja.
Aber die Dinge änderten sich. Es waren nicht ihre eigenen Kinder, die durch den Vorraum der Synagoge tobten und die Frauen zwangen, sie zur Ruhe zu ermahnen, oder einen alten Mann, der zu spät kam, veranlassten, die Stirn zu runzeln. Ihr Laden hielt Sima zudem die ganze Woche auf Trab, sie hatte nur Freitag und Samstag frei, und es gab zu viel Arbeit und zu viel zu erledigen, um Hand in Hand zur Synagoge zu gehen, mit Freunden ausgiebig zu Mittag zu essen oder ein Nachmittagsschläfchen zu halten. Also hörten sie damit auf. Als die Jahre vergingen und das Viertel chassidisch wurde, zogen die meisten
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