Die geheime Welt der Frauen
streckte die Hand aus. »Lev, geh nicht weg«, stieß sie hervor, »ich weiß, ich hätte es dir sagen sollen, aber ich habe mich so geschämt. Sechsundvierzig Jahre habe ich nichts gesagt, und jetzt, bitte, geh nicht …«
»Ja, du hättest es mir sagen sollen«, antwortete er und blickte auf sie hinab. »Deswegen unsere Ehe zu ruinieren war es nicht wert, Sima. Das war es nicht wert.«
Nachdem er gegangen war, drehte sie sich wieder auf die Seite und schob die Hände unter die Knie, damit sie nicht mehr
zitterten. Es war vorbei. Sie hatte sich gegen dieses schreckliche Geheimnis so lange gewehrt, dass sie nicht wusste, ob sie ohne es überhaupt leben konnte. Ein Aneurysma im Gehirn, dachte sie, ein Schlaganfall - irgendetwas, das sie sterben ließe. Lev würde zurückkommen und sie tot auffinden, kalt und bleich auf dem Bettüberwurf, wie damals ihre Mutter.
Doch die Dunkelheit brach herein, und sie bekam Hunger und war immer noch am Leben. Sie ging in die Küche, machte genügend Ravioli für sie beide und trödelte herum, bis die Pasta kalt war, bevor sie das Essen auf den Tisch brachte und aß. Sie gab seinen Anteil in Tupperdosen, spülte das Geschirr ab, ging wieder ins Schlafzimmer und wartete. Er kann mich nicht verlassen, dachte sie, er kann allein nicht überleben. Sie war immer neidisch darauf gewesen, dass Art kochte und putzte, aber jetzt tröstete sie sich mit dem Unterschied zwischen den beiden Männern: Lev weiß nicht, wie viel Waschmittel man braucht, weiß nicht, wie man ein Hähnchen brät - sie wiederholte die Klagen, die ihre Kundinnen immer zum Lachen brachten, spulte sie wie ein oft bemühtes Gebet ab.
Er kehrte zurück, nachdem sie sich voller Sorge, wo er sein mochte, schlafen gelegt hatte - hatte man ihn an einer Tankstelle niedergestochen, in der U-Bahn auf die Gleise gestoßen? Als sie die Tür aufgehen hörte, schloss sie die Augen und bedankte sich flüsternd.
Es war genügend Licht im Raum, dass er sie sehen konnte, aber er zog sich schweigend aus, putzte die Zähne, ging auf die Toilette. Sie spürte den Lufthauch, als er die Decke zurückschlug, und dann die Wärme seines Körpers neben ihr, aber immer noch sagte er nichts. Sie musste sprechen.
»Nun?« Ihre Stimme klang nicht so sanft, wie sie es gern gehabt hätte.
Er schwieg noch einen Moment, während sie auf seinen
flachen Atem lauschte. »Gute Nacht, Sima«, sagte er schließlich.
»Ist das alles, was du zu sagen hast, ›Gute Nacht‹?« Nachdem sie sich stundenlang Sorgen gemacht hatte, wie er reagieren würde, konnte sie es nicht ertragen, missachtet zu werden: Er war grausam und lieblos, so gleichgültig ihren Gefühlen, ihren Bedürfnissen gegenüber, dass selbst ihr dunkelstes Geheimnis keinen Zorn bei ihm auslöste. »Wie sieht meine Strafe aus? Was wirst du …«
»Es gibt keine Strafe, Sima.«
»Aber es muss doch etwas geben. Irgendwas muss es doch geben nach all der langen Zeit?« Sie hasste ihn, weil er sie zwang, ihn um seinen Zorn zu bitten.
Mit ruhiger Stimme sagte er: »Du bist diejenige, die die Wahl getroffen hat, Sima.«
»Ich war sechzehn!«
»Das ist nicht die Wahl, von der ich spreche.« Er schwieg eine Weile, bevor er weitersprach. »Du hast dich entschieden, mir nichts zu sagen, Sima. Jahrzehntelang hast du mir nichts gesagt. Also was willst du jetzt von mir hören?«
Ohne nachzudenken, antwortete sie: »Dass du es verstehst.«
»Was würde es bedeuten, es zu verstehen? Was würde das ändern?« Er faltete die Arme über der Brust und hielt mit den Händen die Ellbogen fest. »Es hat keinerlei Bedeutung mehr. Du hättest es mir vor fünf, vor zehn Jahren sagen können - ganz egal. Aber wenn du es mir damals gesagt hättest, wenn du mich damals eingeweiht hättest …« Er brach ab. Sie hörte, dass sein Atem tiefer wurde. »Wären wir jetzt vielleicht besser dran, Sima. Wir hätten vielleicht eine bessere Chance gehabt.«
Es war das Grausamste von allem, dieses Bedauern. Sie war diejenige, die bereute, die trauerte - nicht Lev, niemals Lev.
»Wer nicht?«, fragte sie. »Wer wäre nicht besser dran, wenn nur alles anders gewesen wäre?«
»Ich weiß nicht, ich kenne niemanden außer uns. Es ist bloß furchtbar schade, das ist alles, es ist einfach nur furchtbar schade.«
Sima war erst einmal in der Mikwa, dem rituellen Bad, gewesen. Zwei Tage vor ihrer Hochzeit hatte sie mit zitternder Hand an dem vergilbten Klingelzug gezogen und war ins Wasser eingetaucht, um sauber und rein in die
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