Die geheimen Jahre
Dockerill war ein paar Jahre jünger als Daniel und hatte nur die letzten neun Monate am Krieg teilgenommen. Aber diese neun Monate hatten ausgereicht. Vor vielen Jahren, in einer anderen Zeit, hatten Harry und seine Brüder Steine nach Daniel geworfen, wenn er in seiner piekfeinen Schuluniform vom Gymnasium nach Hause ging. Jetzt war Harry, genau wie Daniel, ruhiger und gesetzter geworden und froh über die Stille und die Weite der Landschaft. Harry hatte im Krieg Gasverletzungen erlitten und konnte keine schweren Arbeiten mehr verrichten. Manchmal, wenn Daniel mit ihm arbeitete, erinnerte er ihn an seinen jüngeren Bruder, der ebenfalls Harry hieà und 1918 gefallen war.
Den Lohn für einen Arbeiter aufzubringen war schwierig, aber Daniels Meinung nach notwendig. Einmal die Woche las er in der Bibliothek von Ely den Daily Herald sowie den Farmer und Viehzüchter . Er glaubte nicht, daà die guten Zeiten â der industrielle und landwirtschaftliche Aufschwung, der nach dem Krieg eingesetzt hatte â anhalten würden. Die Briefe, die er gelegentlich von Hattie erhielt, berichteten von den länger werdenden Schlangen der Arbeitslosen in London. Er fragte sich, wie lange die Regierung die Weizenpreise noch stützen würde. Im Moment litten die GroÃgrundbesitzer unter der Erbschaftssteuer und höheren Abgaben. Wenn Daniel zu dem flachen Damm der Insel hinübersah, der Drakesden Abbey vor dem Wasser schützte, scherte er sich einen Dreck um die Grundbesitzer. Aber er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis die Farmer, die Kleinpächter und die Landarbeiter vom kalten Wind des Wandels getroffen würden.
Nicht lange, dachte er, weshalb er für sich und Fay Vorsorge treffen muÃte. Wenn der Weizenpreis in den Keller stürzte, durfte er nicht völlig auf Weizen setzen, wenn er überleben wollte. Er pflanzte Kartoffeln und Rüben an und machte Pläne für Erdbeerbeete und Himbeerkulturen. Für alles, was nicht einfacher und billiger aus dem Ausland eingeführt werden konnte, für alles, was auf der weichen schwarzen Erde der Fens gedieh. Auf jedem Zentimeter seiner Felder muÃte etwas wachsen.
An den Markttagen fuhren er und Fay nach Ely. Bei gutem Wetter machte es Fay SpaÃ, auf dem Marktplatz Eier zu verkaufen. Sie trug stets ihre besten Kleider: Ihre Säume waren kürzer als die der meisten Frauen und ihre Lippen mit ein wenig Lippenstift geschminkt. Nachdem er seine eigenen Geschäfte erledigt hatte und über den Platz auf sie zuschlenderte, war Daniel immer mächtig stolz auf sie.
Doch wenn er die Zeit gehabt hätte, hätte er endlos gelesen. Es war, als hätte sich ein groÃes Gefäà in ihm aufgetan, das gefüllt werden wollte. Er las schlichtweg alles: Biographien, Geschichtsbücher, Romane, Gedichte. Beim Lesen bemerkte er seine eigene Unwissenheit, die Mangelhaftigkeit seiner abgebrochenen Ausbildung. Er las all die Klassiker, die er als Kind nie hatte lesen können: Dickens und Thackeray, Meredith und Hardy. Anfänglich versuchte er, seine Freuden mit Fay zu teilen, ihr die Bücher zu zeigen, die er ausgeliehen hatte, und die Geschichten zusammenzufassen. Lesen schade ihren Augen, erklärte sie. Sie sei am Abend zu müde für etwas anderes als Womanâs Weekly . Also las er ihr eines Abends im Licht der Ãllampe vor. Der Herd hatte das kleine Cottage erwärmt, und sie waren vor dem schlechten Wetter drauÃen geschützt. Aber nachdem er eine Seite gelesen hatte, sah er auf und entdeckte, daà ihre dunklen Augen glasig und teilnahmslos blickten. Da legte er das Buch beiseite, ging zu ihr hinüber, nahm sie in die Arme und schlief mit ihr.
Auch Thomasine las. Dr. Marie Stopes Buch Eheliche Liebe war nicht leicht zu bekommen, aber als sie es las, war Thomasine überrascht. So sehr, daà ihr Tränen übers Gesicht liefen. Tränen des Zorns. Sie beschloÃ, nie mehr das Opfer ihrer Unwissenheit zu sein. Gute Taten und lebenslange Jungfräulichkeit mochten für Hilda und Rose taugen, aber nicht für sie.
Sie hörte Nicholas die Tür aufsperren und die Treppe herauflaufen. Schnell versteckte sie das Buch unter dem Kissen.
Er öffnete die Schlafzimmertür. »Du bist noch nicht fertig, Liebling. Beeil dich â wir müssen gleich weg.«
Sie hatte die Zeit und die Pläne für den Abend vergessen. »Wo gehen wir hin?«
»Zu einem Picknick. Du
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