Die geheimen Jahre
Nähe, um das Gepäck auszuladen. Nicholas öffnete die Wagentür, und Thomasine stieg aus.
Dann erschien eine weitere Gestalt am Eingangsportal von Drakesden Abbey. Eine Frau, die ein weiches, malvenfarbenes, in der Taille geschnürtes Kleid trug, dessen weiÃer, mit Perlen besetzter Spitzenkragen ihren Hals umgab. Lady Blythes Kleid stammte noch aus der Vorkriegszeit. In ihrem blonden, makellos frisierten Haar war keine Spur von Grau zu entdecken.
»Nicky!« Langsam und würdevoll schritt Lady Blythe die Stufen zu ihrem Sohn hinab. »Liebling â wie wundervoll. Wir haben dich so schrecklich vermiÃt.« Sie nahm Nicholasâ Hand und küÃte ihn auf die Wange. Dann trat sie zurück. »Aber du siehst so blaà aus â so müde.« Sie runzelte die Stirn, ihre Stimme klang besorgt. »Wahrscheinlich treibst du dich zuviel herum. Und vermutlich hast du auch nicht ordentlich gegessen.«
»Mama.« Nicholas flüsterte seiner Mutter etwas ins Ohr.
»Natürlich.« Das Lächeln kehrte auf Lady Blythes Gesicht zurück. Thomasines Herz begann zu klopfen. Nicholas nahm ihre Hand und zog sie heran.
»Mama, das ist meine Frau, Thomasine. Du erinnerst dich doch an Thomasine, nicht wahr, Mama?«
Ein Hauch von Nelkenduft lag in der Luft, als Lady Blythes Lippen Thomasines Wange streiften. Ein Rascheln von Seide, eine gemurmelte BegrüÃung, und Thomasine wäre unendlich erleichtert gewesen, hätte sie nicht bemerkt, wie sich die eisblauen Augen ein wenig zusammenzogen und die Winkel des hübschen Mundes leicht abschätzig nach unten bogen.
Das Bett in Thomasines Zimmer hatte vier Pfosten und schwere Vorhänge. Ihre Koffer waren bereits ausgepackt, und ihr Abendkleid lag frisch gebügelt auf dem Bett ausgebreitet. Das Badezimmer befände sich auf dem Gang, erklärte ihr das Mädchen, bevor es den Raum verlieÃ, aber falls Mrs. Blythe heiÃes Wasser benötige, müsse sie nur klingeln. Thomasine starrte auf den Klingelzug neben dem Waschtisch. Sie konnte sich nicht vorstellen, nach irgendeinem armen Mädchen zu läuten, das aus den Kellergewölben des Hauses einen Krug mit heiÃem Wasser heraufschleppte.
Der Himmel drauÃen war dunkler, die Luft kälter geworden. Nach Sonnenuntergang war der Maiabend kühl. Es gab kein Feuer im Zimmer: Weder Kohle noch Asche lagen in dem glänzend sauberen Kamin. Natürlich gab es auch kein elektrisches Licht, nur eine Ãllampe auf dem Tisch, die nicht angezündet war. Thomasine blickte sich suchend um, konnte aber keine Streichhölzer finden. Sie fröstelte, drehte sich um und sah aus dem Fenster.
Der Raum ging nach Norden auf die Vorgärten und die Einfahrt hinaus. Prachtvolle Bäume â eine Zeder, eine Schuppentanne, eine Rotbuche â, die die kalten Winde der Fens überlebt hatten, standen auf dem Rasen. Unterhalb des Vorgartens befand sich die Koppel. Sie konnte die Kirchturmspitze erkennen und die fernen Umrisse des Deichs, der den Nebenfluà der Lark zurückhielt. Am Ende der vereinzelten Häuser, die sich auÃerhalb des sicheren Schutzes des Dorfes befanden, glaubte sie, das Cottage des Hufschmieds zu erkennen, aber das kleine Haus verlor sich in den Schatten, und die dahinter liegenden Felder schimmerten bläulichgrau im Zwielicht.
Sie fühlte sich staubig von der Reise und muÃte sich zum Abendessen umziehen. Mit ihren Handtüchern und ihrem Waschbeutel ging sie hinaus, um das Badezimmer zu suchen.
Das Mädchen hatte ihr zwar erklärt, wo es sich befand, aber sie erinnerte sich nicht mehr. Daher versuchte sie, sich die Anlage des Hauses zu vergegenwärtigen, wie sie sie von ihrem früheren, unheilvollen Besuch im Gedächtnis behalten hatte, doch ihr fielen nur der feuchte Wintergarten und die Küche ein, wo die Köchin und die Küchenmägde sie angestarrt hatten.
Aus einem der Zimmer tauchte ein Dienstmädchen auf, und Thomasine hätte es vor Erleichterung umarmen können. Es war Ellen Dockerill aus dem riesigen Clan der Dockerills, die in dem Zweizimmer-Cottage in der Beckâs Row aufgewachsen war.
» Ellen! Wie schön, dich zu sehen. Ich suche das Badezimmer. Ich muà mich vor dem Abendessen baden ⦠die Reise â¦Â« Sie hielt inne.
»Ich geh das Wasser holen, Maâam. Joseph bringt die Wanne in Ihr Zimmer.«
Das Mädchen eilte durch den Gang davon. Thomasine
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