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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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zurückgeblieben waren. Colin wischte mit einem Tischtuch den Regen vom Klavier, und Teddy warf Erde auf das Feuer, um die Flammen zu ersticken.
    Nicholas raste über die engen Landstraßen und erklärte ihr etwas über den Wagen. Irgendwas über Pferdestärken und Zylinder. »Ich hab einen vollen Benzinkanister auf dem Trittbrett, und der Delage läuft wie geschmiert. Die andern haben keine Chance. Bobby hat einen Hispano-Suiza, aber ich finde, daß der Delage das bessere Auto ist.«
    Sie hatten die grüne, geheimnisvolle Wildnis des New Forest bereits hinter sich gelassen. Es regnete zwar nicht mehr, aber im ersten Schimmer des Morgengrauens sah Thomasine die Nässe, die auf der Straße lag, und die tiefen Pfützen, die sich am Rand gebildet hatten.
    Die Hände am Lenkrad und den Fuß auf dem Gaspedal, warf Nicholas einen Blick auf sie. »Alles in Ordnung, Liebling? Bequem?«
    Die zärtlichen Worte waren eine solche Seltenheit, daß sie lächelte. »Mir geht’s gut. Ich hab’s wunderbar bequem.«
    Obwohl der Delage aufgrund der hohen Geschwindigkeit auf der holperigen Straße ratterte und kalte Luft durch die unverglasten Seitenfenster hereinblies, bemerkte Thomasine die Unannehmlichkeiten kaum. Der Champagner, den sie getrunken, und die Erschöpfung, die sie inzwischen überkommen hatte, dämpften alle anderen Gefühle. Ihr war nicht einmal mehr kalt. Mit Teddy Seftons Smokingjacke, die sie bis zu den Ohren hochgezogen hatte, saß sie zusammengekrümmt auf dem Sitz und fühlte sich von der übrigen Welt wie abgeschnitten.
    Â»Sag mir, wenn ich anhalten soll. Wenn du dich unwohl fühlst oder sonst was.«
    Wieder antwortete sie: »Mir geht’s gut. Ich schlafe vielleicht ein bißchen.«
    Doch sie konnte nicht richtig schlafen. Wirre Traumbilder, vermischt mit den Erinnerungen des heutigen Abends, spukten ihr durch den Kopf. Jeden Morgen, jeden Abend, ja, wir haben Spaß . Colin Sefton, der den Klavierdeckel zuschlug. Bobby Monkfield, der aufgeregt um Newbury fuhr und: »Ein Bogen? Was heißt ein Bogen?« rief. Simon Melville, der sagte: »Nicky Blythe und seine kleine Aufsteigerin …«
    Dann wurde der Wagen plötzlich herumgerissen. Sie hörte Nicholas aufschreien. Als sie die Augen öffnete, sah sie in schneller Folge den Himmel, ein Feld und eine Hecke, während der Delage unkontrolliert weiterraste.
    Eine Gestalt tauchte aus dem trüben Morgenlicht auf, ein Gesicht, das sich ihr quälend langsam zuwandte, so nah, daß sie dessen Züge, den Ausdruck klar erkennen konnte. Der Mund der alten Frau war zu einem stummen Schrei aufgerissen.
    Der Delage wirbelte herum und bohrte die Kühlerhaube in die Hecke am Straßenrand. Blätter und Gras stoben auf, zischender Dampf trat aus. Durch die Wucht des Aufpralls wurde Thomasine mit der Stirn gegen das Armaturenbrett geschleudert, was ihr den Atem nahm.
    Nicholas schrie: »Ist alles in Ordnung, Thomasine? Geht’s dir gut?«
    Er riß sie hoch und schüttelte sie. Als sie wieder sprechen konnte, sagte sie: »Ja, alles in Ordnung.« Dann drehte sie sich mühsam um und sah verzweifelt auf die Straße und zu der Grasnarbe hinaus.
    Aber da lag kein zerschmetterter Körper, keine blutige Leiche. Sie hörte Schritte und erkannte im bleiernen Morgenlicht die gebückte Gestalt, die hastig die Straße hinunterlief. Sie rief: »Sind Sie verletzt? Warten Sie …« Aber es kam keine Antwort. Alles an der kleinen, gebückten Gestalt drückte Angst aus.
    Nicholas rief aus: »Sie war mitten auf der Straße. Einer der Reifen ist geplatzt. Sie war mitten auf dieser verdammten Straße, Thomasine!«
    Sie antwortete tonlos: »Sie ist alt, Nick. Und wir sind auf dem Land. Hier sind die Leute nicht an Autos gewöhnt.« Dann stieg sie aus und kauerte sich zitternd an die Hecke, während er den Reifen wechselte.
    Erst am Vormittag kamen sie wieder in London an. Der Wagen ließ sich nur langsam fahren, die vordere Stoßstange war eingedrückt, und die Motorhaube ließ sich nicht mehr richtig schließen. Während der ganzen Rückfahrt konnte Thomasine nicht schlafen. Jedesmal, wenn sie die Augen schloß, sah sie das angstverzerrte Gesicht der alten Frau vor sich. Erst als sie Stadt erreichten und sich in den dichten Verkehr aus Autos, Lastwagen und Bussen einreihten, verließ sie die Angst: vor

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