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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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oder die Beine weggeschossen waren. Männer, die buchstäblich ihre Lungen aushusteten, weil sie in Gasangriffe geraten waren. Ich erinnere mich, wie ich im Buckingham-Palast war, um meinen Orden entgegenzunehmen. Ich fühlte mich so komisch – die Hälfte der Zeit war ich eigentlich gar nicht anwesend, sondern immer noch an der Front. Man nannte mich einen Helden. Und ich war ein Held. Jeder Mann, der das durchgemacht hat, ist ein Held. Bloß daß nichts Heroisches daran war. Nicht das mindeste. Verstehst du?«
    Thomasine dachte an die Kriegsjahre zurück, die sie mit Antonia in London verbracht hatte. »Ich kannte niemanden, der an der Front war«, sagte sie langsam. »Ja, ich kannte Männer wie Nicholas und Daniel, aber ich hatte den Kontakt zu ihnen verloren. Niemand hat mir geschrieben, und niemand hat mir erzählt, wie es war. Ich hab natürlich die Zeitungen gelesen, aber da stand nicht …«
    Â»Ich weiß.« Teddys Stimme klang hart. »Das nennt man Zensur, Thomasine. Abgesehen davon hat niemand seinen Verwandten erzählt, wie es wirklich war. Ich mußte die Briefe meiner Untergebenen zensieren. ›Liebe Mama, ich hoffe, es geht dir genauso gut wie mir. Ich bin bei bester Gesundheit und fühle mich wohl.‹ Mein Gott! « Teddy warf seine Zigarette in ein Blumenbeet.
    Auch Thomasine spürte plötzlich Ärger in sich aufkommen. »Aber ihr hättet es uns sagen sollen. Nur weil wir Frauen sind, ist das kein Grund, uns wie Idioten – oder wie Kinder – zu behandeln …«
    Â»Kannst du dir vorstellen, etwas so Schlimmes zu erleben, daß du mit keinem darüber sprechen kannst? Kannst du das, Thomasine?«
    Ihr Zorn erstarb. Sie wandte den Blick ab. Sie dachte an Paris, an ihre Schwangerschaft, an die geplante Abtreibung, die Fehlgeburt. Nur Alice kannte einen Teil dieser Geschichte. Nie hatte sie mit jemand anderem darüber gesprochen.
    Â»Ja. Ich verstehe.«
    Sie bemerkte, daß es spät geworden war. Daß die Sonne bereits unterging. Daß die Hitze des Tages, des Sommers, allmählich nachzulassen begann.

9
    DIE WOCHEN VERGINGEN – eine hektische Folge aus Kostümfesten, Pool-Partys und Schatzsuchen. Wie erschöpft Nicholas war, zeigte sich an seinen hohlen Wangen und dem unnatürlichen Glanz seiner Augen. Er war äußerst reizbar, und seine Launen wechselten rasch zwischen Hochgefühl und Verzweiflung. Thomasine spürte, welchen Einfluß Simon auf ihn hatte, und achtete darauf, soviel wie möglich bei ihm zu sein. Aber auch sie fühlte sich bald müde und ausgelaugt, so daß sie es auf die langen Nächte und die hektischen Tage schob, als ihre Periode ausblieb. Doch allmählich kam ihr ein anderer Verdacht, und sie begann, wieder Hoffnung zu schöpfen. Aufgeregt vereinbarte sie einen Termin beim Arzt.
    Als sie die Arztpraxis verließ und mit dem Taxi nach Chelsea zurückfuhr, glaubte sie, ihnen sei ein neuer Anfang geschenkt worden. Das Baby, das in ihrem Körper heranwuchs, würde sie vielleicht für das Kind entschädigen, das sie letzten Sommer verloren hatte, und könnte Nicholas helfen, die vielen Toten zu vergessen, die er im Krieg gesehen hatte. Dieses Kind könnte sein erschüttertes Selbstwertgefühl wiederherstellen und ihrem eigenen Leben einen wirklichen Sinn geben.
    Nicholas war nicht zu Hause, als sie zurückkam. Hinter der Uhr auf dem Kaminsims steckte eine Nachricht. »Simon hat angerufen. Bin ein oder zwei Stunden in der Garage. Alles Liebe.« Ein wenig enttäuscht setzte sie sich auf die Couch. Während des ganzen Rückwegs von der Harley Street hatte sie sich sein Gesicht vorgestellt, wenn sie ihm die Neuigkeit verkündete.
    Das Telefon klingelte, und Thomasine nahm ab. Teddy wandte all seine Überredungskünste auf und war amüsant. Sie zog ihren Mantel an, setzte ihren Hut auf und ging zur U-Bahn-Station.
    Sie besuchten eine Ausstellung mit Lithographien und Textilien in einer der Galerien in der Grafton Street. Stilisierte schwarze und weiße Vögel, die sich in den Himmel schwangen, waren auf Plakaten abgebildet, und Frauen mit langen Hälsen und mandelförmigen Augen sahen von den Drucken auf sie herab.
    Â»Gefallen sie dir?« fragte Teddy. »Oder ziehst du Marcus Dorns rote Röhren vor?«
    Sie lachte. »Sie gefallen mir. Sie sind so schwungvoll. So heiter.«
    Â»Wie du«, antwortete

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