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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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zu stillen, sprach seine Mutter mit ihm. Sein Kopf tat weh, und er spürte ein Muskelzucken in seinem Augenwinkel, aber er wußte, daß er nicht schlafen könnte, obwohl er müde war.
    Lady Blythe bemerkte seine Erschöpfung und setzte sich auf den Schemel neben ihn. Die Geste rührte ihn. Sie wirkte jünger, das sanfte Abendlicht schmeichelte ihren inzwischen ein wenig hohlen Wangen und verblichenen Zügen.
    Â»Nicky, Liebling«, begann sie, hielt dann inne und sah mit runden blauen Augen zu ihm auf. Er roch den zarten Nelkenduft, der von ihr ausging. Wie immer versetzte ihn dieser Duft ihn in seine Kindheit zurück. Wenn er von Drakesden weggefahren war, um wieder in die Schule zu gehen, hatte sie ihn immer geküßt, und es hatte nach Nelken geduftet …
    Â»Nicky. Ich bin sicher, Thomasine versucht ihr Bestes, aber sie ist eben nicht mehr in ihrem gewohnten Milieu.«
    Er sah sie verständnislos an. Seine Kopfschmerzen wurden schlimmer. »Was meinst du, Mama?«
    Â»Nun …«, begann sie zögernd. »Die Sache mit dem Land. Und der Nanny. Und die Taufe.«
    Â»Oh.« Er rieb mit dem Zeigefinger die Falte zwischen seinen Augenbrauen. Er hatte keinen so langen Katalog an Verfehlungen erwartet. »Die Taufe? «
    Sie stieß ein kurzes Lachen aus. »Nun, das war doch ein ziemliches Desaster, oder? Das Frühstück etwa – wenn Marjorie und ich die Sache nicht wieder in Ordnung gebracht hätten … Und das Menü, das Thomasine zusammengestellt hat, das war doch vollkommen mißglückt. Ich will sie ja nicht kritisieren, Nicholas, aber …« Lady Blythe beendete ihren Satz nicht, sondern hüllte sich in ein vieldeutiges Schweigen.
    Nichols sah sie an und versuchte, sich an Williams Taufe zu erinnern. Sie schien eine Ewigkeit her zu sein. Seltsam, daß ihm Ereignisse, die vor fünf oder sechs Jahren stattgefunden hatten, völlig klar vor Augen standen, die jüngste Vergangenheit jedoch zu einem formlosen Knäuel verschwamm.
    Â»Das Essen war zum Abgewöhnen«, antwortete er und erinnerte sich vage an den angebrannten Fisch.
    Â»Und die Nanny zu entlassen!« Lady Blythe schüttelte mißbilligend den Kopf.
    Nicholas spürte, daß es seiner Mutter schwerfiel, diese Dinge mit ihm zu besprechen.
    Â»Nachdem ich mich so bemüht hatte, eine geeignete Frau zu finden … Miss Harper wurde mir auf die ausdrückliche Empfehlung von Athene Faversham geschickt, weißt du, Nicky … das ist alles so peinlich … und das arme Kind allein Marthas Obhut zu überlassen! Das geht doch nicht, das geht doch wirklich nicht. Thomasine mutet sich viel zuviel zu.«
    Unfreiwillig wurde ihm bewußt, daß sie recht hatte. Es hatte immer Nannys und Kindermädchen gegeben: Man stand unter Aufsicht einer Nanny, bis man in die Vorschule kam.
    Er versuchte, es ihr zu erklären. »Bei Thomasine war es anders, Mama. Sie ist in ärmlichen Verhältnissen auf einer Farm in Afrika aufgewachsen. Und dann …« Er brach plötzlich ab, weil er merkte, welche Falle er sich damit stellte. Dennoch mußte er zugegeben, daß Mama recht hatte und daß Thomasine und er sich auf Drakesden stritten, weil sie nicht gelernt hatte, sich anzupassen.
    Lady Blythe schwieg taktvoll. Nicholas’ Kopfschmerzen hatten begonnen, seine Sehfähigkeit zu beeinträchtigen. Das passierte in letzter Zeit manchmal, so daß er befürchtete, die zuckenden Lichtblitze der Migräne brächten die Visionen wieder zurück, die ihn in den ersten Nachkriegsjahren gequält hatten. Am liebsten hätte er sich irgendwo versteckt, wo es warm, dunkel und einsam war, wo er nicht mehr denken mußte, bis er wieder richtig sehen konnte.
    Mama spürte seine Qualen und betupfte mit ihrem nach Eau de Cologne duftenden Taschentuch seine hämmernde Stirn.
    Â»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Nicky. Ich werde mich darum kümmern, daß Williams Erziehung nicht beeinträchtigt wird, und ich werde die Führung des Haushalts beaufsichtigen. Und natürlich mußt du das Land verkaufen, wenn es nötig ist, um so die Güter von Drakesden zusammenzuhalten. Thomasines Pflichten beschränken sich schließlich auf das Haus und das Kind. Die Landwirtschaft ist dein Verantwortungsbereich.«
    Beim Wort »Verantwortung« zuckte er zusammen. Er wußte, daß er seine Pflicht nicht erfüllt hatte. Er

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