Die geheimen Jahre
lassen, Mrs. Gillory. Es könnte sich entzünden.«
Sie fühlte sich völlig benommen. Als er ihre Hand an seine Lippen hob, die Lippen um die schmerzende Fingerspitze legte und den winzigen Dorn aus ihrem Fleisch saugte, schrie sie kurz auf â vor Freude, vor Angst und vor Scham.
»Sie schmecken nach Mandeln«, sagte er.
Das Abendessen war das reichhaltigste Mahl des Tages: sechs Gänge, von bedeutungsloser Konversation begleitet und von einem schweigenden Butler und Lakaien serviert.
Sie waren beim Dessert angekommen. Thomasine und Lady Blythe würden sich in den Salon zurückziehen, um Nicholas seiner Zigarre und seinem Portwein zu überlassen. Nicholas hatte seinen Nachtisch nicht angerührt, seine Finger trommelten auf den Tisch. Thomasine legte liebevoll ihre Hand auf die seine und brachte das Geräusch zum Verstummen.
»Nick â ich bin heute um die Insel geritten. Viele der Felder stehen gut im Korn und können bald geerntet werden. Aber diejenigen in der Nähe von Burnt Fen liegen brach.«
Er antwortete unbestimmt: »Carter kümmert sich schon darum, Thomasine.«
»Ich weiÃ. Ich werde morgen mit Joe reden. Aber Nick, die Familien ziehen aus den drei Cottages dort aus. Ihr ganzes Mobiliar ist auf dem Weg aufgetürmt. WeiÃt du warum?«
Nicholas zog die Hand unter der ihren hervor. Er griff in die Tasche, um sein Zigarettenetui herauszuholen.
»Ich verkaufe das Land«, antwortete er schlieÃlich.
Sie starrte ihn an. Der Diener beugte sich herunter und trug ihren Teller ab. Thomasine bemerkte ihn kaum.
»Du verkaufst es â¦Â«
Er nickte. »Irgendein Bursche baut eine Autowerkstatt dort. Angeblich ist ein Vermögen damit zu verdienen â bald wird es überall im Land Autowerkstätten geben.« Er fummelte mit seinem Feuerzeug herum, als er versuchte, seine Zigarette anzuzünden.
Lady Blythe sagte: »Ich glaube, Nicholas möchte rauchen, Thomasine.«
Der Diener stand bereits hinter Thomasines Stuhl, um ihn wegzuziehen, damit sie sich mit ihrer Schwiegermutter in den Salon begeben konnte.
Nicholas fügte ausweichend hinzu: »Die Cottages wurden mit dem Land verkauft. Daran ist nichts zu ändern.«
Sie fühlte sich getroffen, als hätte man ihr einen Schlag versetzt. »Du könntest anderes Land verkaufen!« flüsterte sie. »Wohin sollen die Leute denn gehen?«
»Sie finden etwas anderes. Die ganzen Fens sind voller Cottages für Arbeiter.«
»Niemand stellt neue Arbeiter ein. Das weiÃt du doch, Nick.«
Er zuckte die Achseln. »Ich hatte keine andere Wahl. Ich brauche das Geld.«
Sie glaubte ihm nicht. Als sie sich umblickte, sah sie das glänzende Silber, das venezianische Glas, das ziselierte Besteck mit dem eingravierten Monogramm, all die Zeichen von Reichtum und Sicherheit.
»Du hattest genügend Geld für das elektrische Licht ⦠für die Warmwasserleitungen â¦Â«
Er saà mit hochgezogenen Schultern da und antwortete nicht gleich.
Die Verzweiflung in seinen Augen alarmierte sie, und erneut überkam sie ein Gefühl der Hilflosigkeit angesichts der Unabänderlichkeit von Besitzverhältnissen und Traditionen, die seit Jahrhunderten bestanden. Auch ihn belastete es, dachte sie, zwischen dem Gestern und Heute hin und her gerissen zu sein. Gezwungen zu sein, sich zwischen den Ansprüchen seiner Mutter und den ihren zu entscheiden.
»Ich muà Erbschaftssteuer bezahlen, Thomasine«, sagte er mürrisch. »Ich hab anderes Land zum Verkauf angeboten, aber niemand hat es genommen. Die Felder waren zu sumpfig, und im Moment interessiert sich ohnehin niemand für Ackerland. Ich hatte verdammtes Glück mit der Werkstatt.«
Ohne sich um Lady Blythe oder das Dienstpersonal zu kümmern, erhob sie sich und trat zu ihm. Neben seinem Stuhl ging sie in die Hocke.
»Nick«, begann sie sehr zärtlich. »Willst du es dir nicht noch einmal überlegen? Verkauf vielleicht nur die Hälfte des Lands â oder mach zur Bedingung, daà der Werkstattbesitzer den Leuten erlaubt, in ihren Häusern zu bleiben. Würdest du darüber nachdenken? Bitte? Für mich?«
Sie hatte seine Hand ergriffen, und der Blick aus seinen dunklen, gequälten Augen traf den ihren. Langsam senkte Nicholas den Kopf.
»Ja«, antwortete er. »Ich denke darüber nach.«
Als Thomasine nach oben gegangen war, um das Kind
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